Hintergrund
„Vor dem Virus sind alle gleich“, lautete eine der frühen Einschätzungen des Infektionsgeschehens mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV‑2 in der Fach- und medialen Öffentlichkeit [
1]. Internationale Studien zeigten hingegen alsbald, dass vor allem Personen in sozioökonomisch benachteiligten Regionen von höheren Inzidenzen und höherer Mortalität betroffen waren [
2]. Für Deutschland wurden diese Befunde bereits ab der zweiten Pandemiewelle sowie im weiteren Verlauf deutlich, sowohl in ökologischen Studien als auch auf Individualebene [
3‐
5]. Auch Menschen mit Migrationsgeschichte
1 [
6] waren häufiger von erhöhten Inzidenz- und Mortalitätsraten durch COVID-19 betroffen, wie die internationale Forschung [
7‐
12] und erste Befunde aus Deutschland zeigten [
12‐
14]. Zurückführen lässt sich dies nicht auf die Migrationsgeschichte selbst, sondern insbesondere auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen [
12].
Über die direkten Folgen der Pandemie – wie etwa Infektionen oder die durch COVID-19 verursachte Mortalität – hinaus, zeigen sich indirekte Folgen des Pandemiegeschehens, wie Arbeitsplatz- oder Einkommensverluste. Schwierige wirtschaftliche Entwicklungen und behördlich angeordnete Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sorgten landesweit für Arbeitsausfälle. Auch hier stellt sich die Frage, ob diese indirekten Pandemiefolgen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark wirken. Im Frühsommer 2020 waren laut Erwerbstätigenbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) deshalb etwa 20 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Kurzarbeit, insbesondere Beschäftigte mit einem geringeren Haushaltseinkommen oder niedrigerer Bildung [
15]. Beschäftigte im Niedriglohnsektor waren häufiger in Kurzarbeit [
16], aber auch von Arbeitslosigkeit bedroht [
17].
Menschen mit Migrationsgeschichte waren in Deutschland schon vor der Pandemie häufiger von Bildungsbenachteiligung, niedrigen Löhnen und von Armut oder Armutsrisiko betroffen [
18]. Daten des IAB zeigen darüber hinaus, dass Menschen mit
Migrationshintergrund, und insbesondere Geflüchtete, häufiger in befristeten Beschäftigungsverhältnissen oder Zeitarbeit tätig waren als Personen ohne
Migrationshintergrund [
19]. Außerdem arbeiten sie häufiger im Gesundheits- und Pflegebereich mit direktem Kontakt zu Patient:innen sowie in weiteren systemrelevanten Berufen [
20] mit verminderten Schutzmöglichkeiten sowie auch in volatilen, krisenanfälligen Berufen [
21].
Schon in der frühen Phase der Pandemie zeigten verschiedene Erhebungen, dass das Vorhandensein eines
Migrationshintergrundes mit vermehrten Einkommenseinbußen assoziiert war [
22,
23] und hier entsprechend häufiger von Sorgen über die eigene wirtschaftliche Situation berichtet wurde [
23]. Wie sich diese indirekten sozioökonomischen Folgen der Pandemie auf die Gesundheit von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland auswirken, wurde bisher nicht untersucht.
Gleichwohl sind Zusammenhänge zwischen sozioökonomischer Benachteiligung sowie ungünstigen Arbeitsbedingungen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit in der Literatur hinreichend beschrieben [
24,
25]. Es kann daher angenommen werden, dass sich auch die sozioökonomischen Benachteiligungen während der Pandemie auf den Gesundheitszustand auswirken können. Die Lebenszufriedenheit ist hierfür ein guter Indikator, da sie ein „Bilanzmaß des subjektiven Wohlbefindens“ [
26] darstellt. Sie spiegelt die subjektive Bewertung der eigenen aktuellen Lebenssituation wider und gilt als wichtiger Aspekt des psychischen Wohlbefindens [
26‐
29]. Die Studienlage deutet auf Zusammenhänge zwischen geringeren Risiken für chronische Erkrankungen und geringeren Mortalitätsraten bei einer höheren Lebenszufriedenheit hin [
27,
29]. In einem Review konnten mehrheitlich Zusammenhänge zwischen einer hohen Lebenszufriedenheit und einem selteneren Auftreten psychischer Störungen bei Menschen mit Migrationsgeschichte identifiziert werden [
30].
Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel dieses Beitrags, zu untersuchen, wie sich antizipierte oder bereits eingetretene Veränderungen in der Arbeits- und Einkommenssituation infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie auf die Lebenszufriedenheit von Menschen mit ausgewählten Staatsangehörigkeiten auswirken.
Diskussion
Die vorliegenden Analysen konnten in einer Stichprobe von Menschen mit ausgewählten Staatsangehörigkeiten Zusammenhänge zwischen der Lebenszufriedenheit und dem Nettoäquivalenzeinkommen, den selbst eingeschätzten Deutschkenntnissen sowie erstmals auch den indirekten sozioökonomischen Pandemiefolgen zeigen. Insgesamt zeigte sich, dass die Mehrheit der Befragten eine hohe Lebenszufriedenheit berichtet. Im Vergleich zur Studie „Corona-Monitoring bundesweit – Welle 2“ (November 2021–Februar 2022) war sie jedoch geringer. Hier gaben 81,3 % der 18- bis 79-Jährigen einen Wert von über 6 an; auch der Median der selbst eingeschätzten Lebenszufriedenheit lag in dieser Studie mit 8 um einen Punkt höher als im vorliegenden Sample (eigene Berechnungen).
Es wurde deutlich, dass Befragte aus der mittleren und niedrigen Einkommensgruppe die indirekten Folgen der Pandemie häufiger für wahrscheinlicher hielten (bzw. diese sich bereits in ihrem Leben manifestiert hatten) als die Befragten aus der hohen Einkommensgruppe. Ein sozialer Gradient, der bereits eingangs für die Allgemeinbevölkerung beschrieben wurde [
16,
17], hat sich auch in einer Stichprobe von Menschen mit ausgewählten Staatsangehörigkeiten bestätigt.
Zusammenhänge zwischen der Einkommenssituation und der Lebenszufriedenheit sind in der Literatur beschrieben [
26,
38,
39], wobei ein höheres Einkommen mit einer höheren Lebenszufriedenheit einhergeht. Ein hohes Einkommen dürfte dadurch, dass Grundbedürfnisse gedeckt sind, zu einem weniger sorgenvollen Leben beitragen und damit positiv auf die Lebenszufriedenheit wirken [
39,
40]. Demgegenüber sind, wie erwähnt, Zusammenhänge zwischen Armut und schlechteren Gesundheitsoutcomes vielfach belegt [
25].
Dass bessere Deutschkenntnisse mit einer höheren Lebenszufriedenheit einhergehen, zeigte sich sowohl in einer Studie unter Arbeitsmigrant:innen in Österreich [
41] als auch unter Geflüchteten in Deutschland [
42], jedoch zu präpandemischen Zeiten. Deutschkenntnisse stellen einen Indikator für soziale Teilhabe dar; sie ermöglichen besseren Zugang zu Informationen, zu Rechten und auch zur Gesundheitsversorgung [
6]. Geringere Deutschkenntnisse können demnach auch mit struktureller Benachteiligung und systematischen Ausschlüssen einhergehen, welche sich wiederum auf die Lebenszufriedenheit auswirken können. Gerade in Krisenzeiten kann dies Unsicherheiten verstärken, auch dadurch, dass Menschen sich die zumeist auf Deutsch angebotenen Informationen in Bezug auf die Pandemie (z. B. Informationen zu COVID-19 allgemein, aber auch zu staatlichen Unterstützungsangeboten) vermutlich weniger gut zunutze machen können.
Von Einkommens- und Arbeitsplatzverlusten im Zuge der Pandemie sind einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge vor allem ohnehin benachteiligte Bevölkerungsgruppen betroffen, wie Jüngere, gering Qualifizierte oder auch Migrant:innen [
43]. Ergebnisse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) verweisen auch in Bezug auf die Allgemeinbevölkerung in Deutschland darauf, dass insbesondere Menschen mit geringerer Bildung oder niedrigem Einkommen von indirekten sozioökonomischen Folgen der Pandemie betroffen waren [
44]. Wie eingangs erwähnt, bestätigen dies Daten aus Deutschland auch für Menschen mit
Migrationshintergrund [
19,
22,
23]. Hinsichtlich der Betroffenheit von den indirekten sozioökonomischen Pandemiefolgen nach Einkommensgruppen bestätigen die vorliegenden Analysen diese Befunde auch erstmals innerhalb einer Stichprobe von Menschen mit ausgewählten Staatsangehörigkeiten. Gleichzeitig sehen wir in den vorliegenden Daten jedoch ohnehin eine Einkommensbenachteiligung. Während der Median des Nettoäquivalenzeinkommens der 18- bis 79-Jährigen deutschsprachigen Allgemeinbevölkerung in der Studie „GEDA 2019/2020“ 1700 € betrug (eigene Berechnungen), lag er in der vorliegenden Stichprobe mit 1333 € mehr als 20 % niedriger.
Dass Einkommenseinbußen oder Arbeitsplatzverluste einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit haben, zeigen sowohl Ergebnisse aus Deutschland [
45‐
47] als auch internationale Befunde [
48‐
50]. Langfristig kann sich eine geringere Lebenszufriedenheit auf das psychische Wohlbefinden [
26‐
30], z. B. in Form von Depressivität oder chronischem Stress, und damit auch auf die körperliche Gesundheit [
27,
29] niederschlagen. Die vorliegenden Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass Verhältnisprävention vermehrt in den Fokus rücken sollte. Planbarkeit der sozioökonomischen Lebensbedingungen, wie Arbeitsplatz- oder Einkommenssicherheit, sollte für alle Menschen gleichermaßen gewährleistet sein, um gesundheitlichen Ungleichheiten entgegenzuwirken. Gleichzeitig sollten Aspekte wie strukturelle und alltägliche Diskriminierung adressiert werden, die ebenfalls auf die Gesundheit wirken [
6], zusätzlich aber auch mit Vertrauensverlusten in öffentliche Institutionen und behördliche Maßnahmen einhergehen und so als Katalysator für Zukunftsängste und verminderte Lebenszufriedenheit wirken können, die indirekt mit einer Reihe zentraler Gesundheitsoutcomes im Zusammenhang stehen. Um dem entgegenzuwirken, sollten Unterstützungs- und Beratungsangebote mehrsprachig, communityorientiert und aufsuchend gestaltet werden, um gerade in Zeiten der Unsicherheit ohnehin bestehende Ungleichheiten nicht noch weiter zu verschärfen.
Limitierend ist hinsichtlich der vorliegenden Ergebnisse anzumerken, dass anhand von Querschnittsdaten keinerlei Rückschlüsse auf die Wirkrichtung von Zusammenhängen möglich sind. Entsprechend wäre es wichtig, die beobachteten Zusammenhänge auch langfristig in Kohortenstudien zu untersuchen. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Arbeitsplatzverlustes ist anzumerken, dass nicht für alle Befragten bekannt ist, ob sie zum Befragungszeitpunkt tatsächlich erwerbstätig waren, da nach der Haupttätigkeit gefragt wurde. Gleichwohl können auch Menschen in Rente oder auch Studierende nebenher erwerbstätig sein, weshalb auf eine Einschränkung der Stichprobe auf Haupterwerbstätige verzichtet wurde. Eine weitere Limitation besteht darin, dass wir anhand der vorliegenden Daten lediglich Aussagen über Menschen mit den ausgewählten Staatsangehörigkeiten, nicht jedoch über alle Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland treffen können. Dennoch handelt es sich hierbei um große Gruppen unter den hierzulande lebenden Menschen mit Migrationsgeschichte und das bisher größte migrationsspezifische Sample in Deutschland, welches tiefgehende Analysen zwischen der gesundheitlichen Lage, migrationsbezogenen, sozialen und strukturellen Determinanten der Gesundheit ermöglicht. Gleichzeitig konnten wir anhand dieses Samples erstmals für den deutschen Kontext zeigen, dass sich auch bei Menschen mit Migrationsgeschichte Ungleichheiten hinsichtlich der indirekten sozioökonomischen Pandemiefolgen und deren Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit zeigen.
Fazit
Der vorliegende Beitrag konnte die Ungleichverteilung indirekter Pandemiefolgen, wie Arbeitsplatz- oder Einkommensverluste, die für die Allgemeinbevölkerung bereits bekannt ist, auch in einer Stichprobe von Menschen mit ausgewählten Staatsangehörigkeiten zeigen. Darüber hinaus konnte der Beitrag nachweisen, dass die Lebenszufriedenheit – ein Faktor, der für eine Reihe von gesundheitlichen Outcomes relevant ist – bei Personen geringer ist, die von diesen Auswirkungen betroffen sind oder diese mit einer hohen Wahrscheinlichkeit antizipieren, als bei denjenigen, die keine Arbeitsplatz- oder Einkommensverluste befürchten. Da eine geringere Lebenszufriedenheit auch mit Folgen für die allgemeine und psychische Gesundheit einhergeht, gilt es, strukturelle Ursachen sozioökonomischer und sozialer Benachteiligungen abzubauen, um damit auch gesundheitliche Ungleichheiten nachhaltig zu adressieren und für künftige Krisen als gesamte Gesellschaft besser vorbereitet zu sein.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.