Hintergrund
Das Neugeborenen-Screening aus Trockenblut (Newborn Blood Spot Screening, NBS) ist eine sehr effektive Maßnahme der Sekundärprävention [
1‐
8], die allen Neugeborenen in Deutschland in den ersten 3 Lebenstagen angeboten werden muss [
9,
10]. Das NBS wird durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in der Kinder-Richtlinie [
9] geregelt und unterliegt dem Gendiagnostikgesetz (GenDG; [
11]). Untersucht wird das Blut auf derzeit 17 Zielkrankheiten aus 6 unterschiedlichen pädiatrischen Spezialgebieten [
9,
10]. Alle diese Krankheiten sind (sehr) selten und müssen frühzeitig diagnostiziert und behandelt werden, um schwere gesundheitliche Schäden wie lebenslange Behinderung oder Tod zu vermeiden [
2,
12‐
14]. Aus individualmedizinischer Sicht ist dieses Screening für die Betroffenen und deren Familien ein großartiger medizinischer Fortschritt. Um die wenigen betroffenen Kinder zu finden (ca. 1 von 750 Neugeborenen), muss allerdings die zu über 99,8 % nicht betroffene „gesunde“ Neugeborenen-Population mituntersucht werden. Wie jedes Screening kann das NBS neben dem großen Nutzen für die betroffene Person auch Schaden verursachen [
12,
15‐
17]. Beispielsweise führen falsch-positive (auffällige) Befunde zu einer Belastung des Gesundheitssystems und können eine kurz- oder langfristige psychosoziale Belastung der Familien auslösen [
2,
4,
15,
18]. Als zentrales ethisches Leitprinzip für Screening-Programme gilt daher: „Der Gesamtnutzen des Screenings soll den Schaden überwiegen“ [
17,
19].
Aufgrund neuer therapeutischer und diagnostischer Möglichkeiten wird zunehmend die Aufnahme weiterer Zielkrankheiten in das NBS gefordert [
2,
15,
20]. Mit der Aufnahme jeder neuen Krankheit und sich ändernder gesellschaftlicher Infrastruktur und Prozesse im Gesundheitswesen wachsen auch die Anforderungen an das NBS [
2,
21]. Vor diesem Hintergrund vergab der GKV-Spitzenverband den Auftrag für ein Forschungsprojekt zur Erarbeitung von Vorschlägen für die Weiterentwicklung der Strukturen und Prozesse des in Deutschland etablierten NBS an die Autor*innen, um auch bei Einführung neuer Zielkrankheiten ein hohes Qualitätsniveau des gesamten Screening-Prozesses zu gewährleisten und dieses nachhaltig zu sichern. Die Strukturen und Prozesse des NBS sollten auf wissenschaftliche Aktualität, Effektivität, praktische Umsetzbarkeit und Weiterentwicklungsbedarf mithilfe quantitativer und qualitativer Verfahren sowie einer systematischen Literaturrecherche überprüft werden. Die Bewertung möglicher neuer Zielkrankheiten hinsichtlich der Evidenz zur Einführung eines Neugeborenen-Screenings erfolgt in Deutschland unter Berücksichtigung der bekannten Screening-Kriterien [
17,
19,
22‐
24] durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG; [
2]) und war daher nicht Inhalt dieses Konzeptes. Erarbeitete Vorschläge und Empfehlungen zur Weiterentwicklung des NBS wurden in einem Konzeptpapier (s. Onlinematerial zu diesem Artikel) festgehalten. Die zentralen Aspekte des Konzeptes werden in der vorliegenden Publikation dargestellt.
Diskussion und Konzeptvorschläge
In Deutschland wird das NBS mit einer hohen Vollständigkeit und der frühzeitigen Diagnosestellung bei mittlerweile ca. 1000 betroffenen Kindern im Jahr insgesamt sehr erfolgreich umgesetzt. Allerdings zeigen die Analysen, Interviews und Diskussionen im Rahmen dieses Projektes sowie die aktuelle Literatur [
49] auch Schwächen und Handlungsbedarf. Defizite werden insbesondere in den Bereichen Prozesskoordination, Dokumentation, Evaluation und Qualitätssicherung mit fehlenden Mechanismen zur Optimierung und zur Minimierung möglicher Risiken des Screenings gesehen. Das Potenzial digitaler Datenaustauschsysteme zur Erleichterung, Beschleunigung und Sicherung des Screening-Prozesses wird bisher wenig genutzt. Die Umsetzung von Verbesserungen in diesen Bereichen wird z. B. erschwert durch den deutschen Föderalismus und ein mehrgliedriges Gesundheitssystem, die fehlende Koordination im Prozess, beim Datenaustausch und der Qualitätssicherung der 11 überregional voneinander unabhängigen Screening-Labore, das traditionelle Privileg der freien Arzt- und Klinikwahl, die geringe Digitalisierung im Gesundheitswesen, strenge Datenschutzbestimmungen und die für das NBS ungeeigneten Regelungen des GenDG.
Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen dieses Projektes an die Situation in Deutschland angepasste Empfehlungen (s. Infobox
1 und Onlinematerial) entwickelt, aus denen nachfolgend die wichtigsten zusammengefasst werden.
Das notwendige Tracking der Wiederholungs- und Kontrolluntersuchungen sowie der Konfirmationsdiagnostik könnte, mit entsprechender Finanzierung, über ein systematisches regionales Tracking durch Screening-Zentren oder Befundkoordinator*innen in den Laboren, ggf. mit Supervision durch eine zentrale Koordinierungsstelle, erfolgen. Für dieses Tracking kann das Labor auf der Datenplattform sehen, ob eine notwendige Kontrolluntersuchung durchgeführt wurde bzw. das Kind im Zentrum angekommen ist, und kann das Ergebnis der Konfirmationsdiagnostik zur Qualitätssicherung der Analytik und Befundung heranziehen.
Fazit
Die Neugeborenenzeit, während der das NBS stattfindet, ist eine einzigartige, vulnerable und prägende Phase für junge Familien, weshalb das Prinzip der Schadensvermeidung hier einen besonders hohen Stellenwert haben sollte. Obwohl das NBS in Deutschland mit einer hohen Vollständigkeit und frühen Diagnosestellungen insgesamt erfolgreich umgesetzt wird, zeigen sich im Rahmen des hier vorgestellten Forschungsprojekts auch Schwächen und Handlungsbedarf. Erarbeitete Vorschläge und Empfehlungen zur Weiterentwicklung des NBS wurden in einem Konzeptpapier festgehalten, das Ansätze für eine dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Weiterentwicklung des NBS aufzeigt. Die wichtigsten Komponenten des Konzeptes betreffen die Organisation des Screenings im Sinne eines integrierten Public-Health-Programms durch eine zentrale Koordination mit kontinuierlichem Qualitätsmanagement, den Aufbau einer datenschutzkonformen digitalen Infrastruktur und die Etablierung von schlanken Trackingstrukturen. Auch praktikable Vorschläge zu einzelnen Prozesskomponenten wie zu einer möglichst wenig traumatisierenden Befundmitteilung wurden erarbeitet. Jede Weiterentwicklung des NBS muss die bestehenden Rahmenbedingungen und die sich ändernden gesellschaftlichen Anforderungen an die Infrastruktur und Prozesse im Gesundheitssystem berücksichtigen. Ein NBS-Programm, dessen Gesamtnutzen den Schaden überwiegt, soll für jedes Neugeborene zu einem bestmöglichen Start ins Leben beitragen.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München erteilte ein ethisch-rechtliches Unbedenklichkeitsvotum zur Durchführung der Befragung (Projekt-Nr.: 21-0240 KB) und für die qualitativen Erhebungen (Projekt-Nr.: 21-0504). Für diesen Beitrag wurden keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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