Einleitung
Deutschland erfährt, wie andere Hocheinkommensstaaten, aufgrund kontinuierlich rückläufiger Mortalität und niedriger Geburtenraten tiefgreifende demografische Veränderungen. Der demografische Wandel führt in Deutschland zu einem zunehmend höheren Anteil älterer Menschen [
1]. Chronisch progrediente Erkrankungen bestimmen in der alternden Gesellschaft zunehmend das Morbiditätsspektrum, sie haben in der Vergangenheit einen Großteil der älteren Menschen über weite Phasen ihres Lebens begleitet [
2,
3]. Dass die Entwicklung der von Krankheit freien Lebenszeit unterschiedlich verläuft, haben frühere Studien bereits gezeigt [
4‐
9]. Inwiefern das Alter mit zusätzlichen Einschränkungen verbracht wird, ist für Deutschland noch wenig beleuchtet [
10,
11]. Es stellt sich die Frage, ob die aufgrund der Mortalitätsreduktion zusätzlich gewonnenen Lebensjahre durch gute funktionelle Gesundheit oder erhöhte Beeinträchtigung gekennzeichnet sind.
Diese Frage wird seit geraumer Zeit diskutiert und führte zu unterschiedlichen Theorien des Verhältnisses von Lebenserwartung und verbleibender gesunder Lebenszeit. Die Kompressionstheorie postuliert, dass mit der Erhöhung der Lebenserwartung auch die Zahl der Jahre zunimmt, die in guter Gesundheit verbracht werden [
12], während die Expansionstheorie die Gegenthese bildet und einen Anstieg der in Krankheit und Beeinträchtigung verbrachten Lebenszeit annimmt [
13]. Gesunde Lebensjahre werden je nach Untersuchungsziel unterschiedlich definiert; unser Fokus liegt auf der funktionellen Gesundheit als Indikator. Unter funktioneller Gesundheit verstehen wir die Fähigkeit, in der Interaktion von gesundheitlichen Voraussetzungen und individuellen sowie umweltlichen Kontextfaktoren Tätigkeiten des täglichen Lebens (wie beispielsweise das Gehen längerer Strecken, Einkaufstaschen tragen, Treppensteigen oder Körperpflege) auszuführen [
14,
15]. Sie ist auf individueller Ebene ein wichtiger Faktor für die Autonomie im Alter, bei unter 65-Jährigen auch für die Erwerbsfähigkeit, und beeinflusst Selbstständigkeit, Lebensqualität und Teilhabe wesentlich mit. Aus gesellschaftlicher Sicht ist eine gute funktionelle Gesundheit u. a. wichtig für die Vermeidung von Langzeitpflege.
Die bisherigen Befunde zu Kompression oder Expansion der Morbidität insbesondere in Bezug auf funktionelle Einschränkungen sind uneinheitlich. Mehrere Studien zeigen einen langfristigen Trend zu einem besseren Gesundheitszustand bei älteren Menschen [
16], nicht aber bei den jüngeren Geburtsjahrgängen [
8,
9,
17]. So wurden Verschlechterungen in der funktionellen Gesundheit unter Personen im mittleren und höheren Erwerbsalter gefunden [
18]. Studien, die sich auf Aktivitäten des täglichen Lebens bei Älteren konzentrierten, fanden einen stabilen bzw. rückläufigen Trend des Anteils der Lebenszeit mit funktionellen Einschränkungen an der Lebenserwartung (z. B. [
19]).
Zur Messung funktioneller Einschränkungen verwenden wir einerseits den standardisierten und international etablierten „Global Activity Limitation Indicator“ (GALI; [
20‐
22]). Der GALI ermöglicht eine globale Erfassung der funktionellen Gesundheit, d. h. die Einschätzung der Auswirkungen gesundheitlicher Einschränkungen auf die Fähigkeit einer Person zur Ausführung von Alltagsaktivitäten. Dieser Indikator ist eine Schlüsselkomponente der EU-SILC-Erhebung (European Union Statistics on Income and Living Conditions) und wurde von mehreren Ländern übernommen, um Daten über Behinderungen und Funktionseinschränkungen zu sammeln [
23]. Bei den GALI-Analysen beschränken wir uns auf die von starken funktionellen Einschränkungen freie Lebenserwartung und damit auf den Aspekt der substanziellen Beeinträchtigung der gesundheitlichen Lebensqualität.
Der Mobilität als spezifischem Bereich der funktionellen Gesundheit kommt im Alltag eine besondere Bedeutung zu. Sie beeinflusst die Lebensqualität wesentlich und sie hat einen hohen prognostischen Wert für Lebensqualität und Lebenserwartung. Einschränkungen der Mobilität sind mit schlechterem Wohlbefinden, mit Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit und früherem Tod verbunden. Ältere Menschen selbst betrachten Mobilitätsverluste als einen wesentlichen Nachteil des Alterns [
12].
Für die Messung von Mobilitätsbeeinträchtigungen wurden Items aus der Subskala „Körperliche Funktionsfähigkeit“ des 36-Item-Short-Form-Surveys (SF-36; [
24,
25]) verwendet. Die Fähigkeit,
einen Treppenabsatz zu steigen, wurde als Indikator gewählt, da sie eine grundlegende alltägliche Aktivität darstellt und zur Teilhabe beiträgt [
26]. Treppensteigen setzt ein gewisses Maß an körperlicher Fitness voraus – Balance, Koordination sowie Muskelkraft, vor allem der Beinmuskulatur. Daher können Probleme beim Treppensteigen frühzeitig auf weitere funktionelle Einschränkungen hinweisen und sind nicht zuletzt eng mit der Unabhängigkeit im Alltag verbunden [
27]. Probleme beim Treppensteigen sind außerdem mit dem Risiko von Stürzen und Sturzangst und damit einer eingeschränkten Unabhängigkeit im Alltag verbunden [
28,
29]. Die Fähigkeit,
weiter als 1 km zu Fuß zu gehen, ist ein Maß dafür, wie gut aerobe Ausdauer, Muskelkraft und Beweglichkeit, insbesondere in den Beinen, sind. Auch dieser Indikator ist eng mit der Unabhängigkeit im täglichen Leben, beispielsweise beim Einkaufen, in der Arbeit oder bei anderen Aktivitäten verbunden. Das Gehen längerer Strecken kann ein Prädiktor für die künftige Entwicklung von Funktionseinschränkungen sein. Bei Älteren, die Schwierigkeiten hatten, eine längere Strecke zu gehen, wurden eine höhere Sterblichkeit, größere Funktionsdefizite, höhere Gesundheitskosten und mehr Krankenhausaufenthalte beobachtet [
30]. Beide Indikatoren bilden unterschiedliche Aspekte der Mobilität ab: Während das Treppensteigen mehr auf koordinierte Bewegung, Balance und Muskelkraft fokussiert, steht das Gehen über längere Strecken in Verbindung mit aerober Ausdauer und Muskelkraft.
Wir untersuchen in dieser Studie, ob die Lebenserwartung ohne starke funktionelle und Mobilitätseinschränkungen ab 46 bzw. 65 Jahren zu- oder abgenommen hat und wie sich ihre Anteile an der Restlebenserwartung verändert haben.
Diskussion
Ziel dieser Studie waren empirische Erkenntnisse zu der Frage, ob es in den Jahren seit 2008 in Deutschland bei der funktionellen Gesundheit von Erwachsenen ab dem mittleren und höheren Alter zu einer Kompression oder Expansion der verbleibenden Lebenszeit mit funktionellen Einschränkungen gekommen ist. Zu diesem Zweck wurden die Veränderungen der DFLE in Jahren und des HR für 3 Indikatoren der funktionellen Gesundheit bei Männern und Frauen ab dem Alter 46 und 65 für die Jahre 2008, 2014 und 2020/2021 analysiert. Die aktuellen Daten aus der DEAS-Welle 2020/2021 legen nahe, dass die DFLE (gemessen in Jahren) bei Frauen höher ist als bei Männern, aufgrund der insgesamt höheren Lebenserwartung der Frauen.
Unsere Analysen lassen keine eindeutige Antwort auf die Frage nach Morbiditätskompression oder -expansion zu. Wir sehen je nach Indikator, Alter und Geschlecht unterschiedliche Trends. Die Heterogenität in der Morbiditätsentwicklung, die gleichzeitig Kompression und Expansion der Morbidität einschließt, spiegelt die Komplexität dieses Themas wider und wird auch von anderen Studien, wie [
19], unterstützt. Für 46-Jährige zeigen unsere Befunde zum Teil stagnierende Tendenzen. Dieser Trend wurde in den vergangenen Jahren u. a. von [
18,
40‐
42] und [
43] berichtet. Im höheren Alter (65 Jahre) entwickelte sich die einschränkungsfreie Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern zum Teil unterschiedlich. Bezüglich der starken funktionellen Einschränkungen sehen wir bei älteren Männern einen Trend in Richtung Kompression der Morbidität, bei den älteren Frauen dagegen eher Stagnation. Die Mobilität stagnierte im betrachteten Zeitraum bei den Älteren, mit Ausnahme des Treppensteigens bei 65-jährigen Männern – bei diesem Indikator liefern die Daten Hinweise auf Kompression der Morbidität. Diese Entwicklung von Funktionseinschränkungen ist u. a. auch von [
44] berichtet worden.
Eine wichtige Erkenntnis unserer Studie ist, dass Frauen gegenwärtig möglicherweise weniger von der allgemeinen Gesundheitsentwicklung profitieren als Männer. Ab dem mittleren Alter (46 Jahre) deuten die Daten auf eine mögliche Expansion der Morbidität bei Frauen hin, insbesondere bei starken funktionellen Einschränkungen, während es für Männer Anzeichen einer Kompression gibt. Diese Tendenz, die auch in früheren Studien belegt wurde [
44,
45], zeigt sich in stagnierenden oder rückläufigen HR-Werten bei Frauen für einige Indikatoren. Für die Ursachen dieser unterschiedlichen Entwicklung bei Männern und Frauen gibt es lediglich erste Anhaltspunkte: Einige Risikofaktoren für funktionelle Einschränkungen scheinen bei Frauen häufiger aufzutreten, darunter Arthritis, depressive Symptome, sturzbedingte Frakturen sowie Alzheimer-Krankheit und verwandte Demenzen. Daneben werden auch eine häufigere körperliche Inaktivität von Frauen und fehlende wirtschaftliche Ressourcen für den Ausgleich funktioneller Defizite als Ursachen diskutiert [
44]. Unsere Ergebnisse ordnen sich damit in den Kontext ähnlicher Studien ein und konnten diese mit Indikatoren für funktionelle Gesundheit des DEAS bestätigen.
Limitationen
Der DEAS ist eine bevölkerungsrepräsentative Erhebung mit Basis- und Panelstichproben. Aufgrund der Pandemiesituation wurde der DEAS 2020/2021 erstmals mit einer telefonischen Befragung erhoben. Dies und die besondere Situation der Pandemiezeit könnten die Vergleichbarkeit zu den älteren Wellen eingeschränkt haben. Ähnliches gilt für die Stichproben: Für die Jahre 2008 und 2014 wurden die Gesamtstichproben der Erhebungen (Basis- und Panelstichprobe) und für 2020/2021 eine reine Panelstichprobe ausgewertet. Die Zusammensetzung der Befragung im Jahr 2020/2021 aus ausschließlich Panelbefragten könnte eine gewisse Überschätzung der zum Teil gefundenen Anstiege der DFLE zwischen 2008 und 2020/2021 begünstigt haben. Durch die Anwendung der Gewichtungsfaktoren wurden diese Stichprobenverzerrungen jedoch soweit wie möglich ausgeglichen. Die Besonderheiten, die aus Moduswechsel und Stichprobenzusammensetzung resultieren, sind bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten. Mit weitergehenden Analysen werden derzeit diese Auswirkungen untersucht [
46]. Die Entwicklung der DFLE in der deutschen Bevölkerung sollte weiter beobachtet werden, um die Evidenz zu den langzeitlichen Zeittrends zu stärken. Bei der Interpretation ist außerdem zu beachten, dass im DEAS nur Daten von Personen in Privathaushalten erhoben werden. Eine weitere Limitation ist, dass stark gesundheitlich eingeschränkte Personen häufig in geringerem Umfang an Surveys teilnehmen und Personen in institutionalisierten Einrichtungen ebenfalls nicht im Sample enthalten sind. Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass die Daten zu den funktionellen Einschränkungen auf Selbstberichten der Befragten, nicht auf Messungen, beruhen.
Schlussfolgerungen
Die Ergebnisse unserer Studie liefern wichtige Einblicke in die Entwicklung der funktionellen Gesundheit von Erwachsenen ab dem mittleren und höheren Erwachsenenalter in Deutschland. Die Vielfalt in der Morbiditätsentwicklung, die sowohl Kompression als auch Expansion der Morbidität und funktionellen Einschränkung umfasst, unterstreicht die Komplexität dieses Forschungsgebiets.
Angesichts der Entwicklung der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der funktionellen Gesundheit sollten gesundheitspolitische Maßnahmen gezielt auf die Bedürfnisse von Frauen und Männern eingehen. Insbesondere bei der Prävention schwerwiegender funktioneller Einschränkungen im mittleren Erwachsenenalter könnte eine verstärkte Förderung von Gesundheitsprogrammen für Frauen erforderlich sein, um einer potenziellen Expansion der Morbidität entgegenzuwirken. Eine gendersensible Gesundheitsförderung könnte beispielsweise bedeuten, dass Programme zur Förderung von körperlicher Aktivität oder Rehabilitation spezifische Trainingsmethoden oder Settings für Frauen und Männer anbieten. Außerdem ist es wichtig, die altersspezifischen Unterschiede in der Morbiditätsentwicklung zu berücksichtigen. Im mittleren Erwachsenenalter sind möglicherweise präventive Maßnahmen zur Verlangsamung von funktionellen Einschränkungen erforderlich, während im höheren Alter eine altersangepasste Herangehensweise erforderlich ist, die auch den Geschlechtsunterschieden Rechnung trägt.
Gesundheitspolitische Strategien sollten geschlechtsspezifische Perspektiven integrieren, um sicherzustellen, dass die Bedürfnisse von Frauen und Männern gleichermaßen berücksichtigt werden. Dies könnte die Entwicklung von gezielten Gesundheitsprogrammen, Forschungsförderung und präventiven Maßnahmen einschließen.
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