Während die durch Dopaminrezeptorblocker induzierten akuten Dyskinesie
n mit
Anticholinergika leicht zu behandeln sind und nach Absetzen des induzierenden Medikaments sistieren, ist das Kriterium für die tardive Dyskinesie die Persistenz nach Absetzen der kausativen Pharmaka. Unter der tardiven Dyskinesie lassen sich phänomenologisch mindestens drei eigenständige „tardive“ Syndrome differenzieren: die klassische orobukkolinguale Dyskinesie, die tardive
Dystonie und die tardive Akathisie. Bei einem eingetretenen tardiven Syndrom sollte ein Absetzen der Dopaminrezeptorblocker
oder eine Umstellung auf das atypische Neuroleptikum
Clozapin erwogen werden. Die Therapie der tardiven Syndrome
ist weiterhin schwierig. An medikamentösen Ansätzen findet international das nebenwirkungsreiche Tetrabenazin am meisten Beachtung. Für die tardive Dystonie kann der Einsatz von Botulinumtoxin und Anticholinergika in Analogie zur Behandlung der
idiopathischen Dystonien erwogen werden.
Induzierende Pharmaka
Analog der Ataxie werden die Dyskinesien in der Regel als Toxizitätserscheinung erklärt.
Akute (Früh-) vs. tardive (Spät)dyskinesien bei Dopaminrezeptorblockern
Die mit DRB in Verbindung gebrachten Dyskinesien hat man traditionell in zwei Gruppen eingeteilt: zum einen jene, die früh nach Exposition mit DRB auftreten, die akuten dystonen Reaktionen (90 % innerhalb 4 Tagen) und die akute Akathisie (90 % innerhalb 2 Monaten), zum anderen jene, die nach längerer Einnahme von DRB auftreten und auch nach Absetzen der DRB persistieren, die tardiven Syndrome (s. Übersicht). Tardive Dyskinesien können schon nach wenigen Wochen, in sehr seltenen Fällen sogar innerhalb von Tagen nach Einnahme von DRB auftreten.
Als entscheidendes Kriterium, Frühdyskinesien von den tardiven Syndromen zu unterscheiden, gilt die leichte Reversibilität der Frühdyskinesien nach Absetzen der induzierenden Pharmaka. Zu den Frühdyskinesien werden hier die akuten dystonen Reaktionen und die akute Akathisie gezählt.
Akute dystone Reaktionen
Die akuten dystonen Reaktionen treten innerhalb der ersten Stunden bis etwa 5 Tage nach Beginn einer Behandlung mit DRB auf. Meistens kommt es zu fokalen/segmentalen
Dystonien im kraniozervikalen Bereich bei Erwachsenen oder zu dem Bild einer akuten generalisierten
Dystonie bei Kindern (z. B. bei medikamentöser Prophylaxe der Reisekrankheit). Zu den fokalen/segmentalen Dystonien gehören der
Blepharospasmus,
okulogyre Krisen (konjugierte tonische Blickwendung, meist nach oben), die zervikale Dystonie typischerweise mit
Torti-/Retrokollis, tonischer Kontraktion des Platysmas und der submentalen Muskulatur. Weiterhin zählen dazu pharyngeale Dystonie
n
(Schlundkrämpfe) mit Zungen- und laryngealen Spasmen, die im Extremfall eine Tracheotomie erfordern, oromandibuläre Dystonie mit Zungenprotrusionen sowie tonische Kieferöffnung oder Kieferschließung, die zu Kieferluxationen und Zungenverletzungen führen können. Die oromandibuläre Dystonie kann differenzialdiagnostisch mit Raritäten wie
Tetanus, Strychninvergiftung,
Katatonie oder
Tollwut verwechselt werden. Auch generalisiertere Reaktionen mit Opisthotonus (extreme dorsalkonkave Rumpfbeugung nach hinten), axialer Dystonie mit
Skoliose und Körperneigung zu einer Seite (Pisa-Syndrom
) treten auf. Akute dystone Reaktionen können sehr schmerzhaft sein und halten Minuten bis Tage an. In sehr seltenen Fällen mündet ein protrahierter Verlauf einer akuten dystonen Reaktion in das
maligne neuroleptische Syndrom, das durch Hyperpyrexie, Rigor, Akinese, autonome Störungen,
Hyponatriämie und
Stupor bis
Koma gekennzeichnet ist.
Akute Akathisie
Akathisie heißt „Unfähigkeit zu sitzen“. Subjektiv erlebt der Patient ein quälendes Gefühl der inneren Unruhe, das nach Ansicht mancher Autoren das einzige Symptom darstellen kann. Objektiv äußert sich die Akathisie in einem Umherlaufen, Trippeln, ständigen Gewichtsverlagerungen beim Sitzen, Über- und Entkreuzen der Beine und anderen ungezielten, oft komplexen stereotypen Bewegungen. Wenn eine akute Akathisie auftritt, geschieht dies bei 50 % der behandelten Patienten innerhalb des ersten Monats einer Behandlung mit DRB.
Die akute Akathisie gehört nach frühen Erhebungen zu der häufigsten unerwünschten Wirkung (5–70 % aller Behandelten) von DRB. Sie kann in Extremfällen so beeinträchtigend sein, dass sie zum
Suizid führt. Die Differenzierung der Akathisie von Agitiertheit und psychiatrischer Grundkrankheit kann schwierig sein.
Erhöhung der DRB-Dosis führt in der Regel zu einer Verschlechterung der akuten Akathisie und Reduktion zu einer Besserung im Gegensatz zur tardiven Akathisie.
Tardive Syndrome
Unter dem Begriff „tardive Dyskinesie“ kann man heute phänomenologisch mindestens 3 eigenständige Syndrome abgrenzen:
1.die klassische tardive (orobukkolinguale) Dyskinesie,
Die tardive
Dystonie und die tardive Akathisie
sind zwar sicherlich seltener, aber subjektiv und objektiv in der Regel erheblich beeinträchtigender für den Patienten als die klassische orobukkolinguale Dyskinesie, die eher von Mitmenschen als störend empfunden wird.
Darüber hinaus ist das Adjektiv „tardiv“, im Sinne von persistierend nach DRB, auch im Zusammenhang mit Myoklonus, Tourette-Syndrom, Tremor und Parkinson-Syndrom verwendet worden.
Wesentliche Eigenschaft der tardiven Syndrome ist ihre Persistenz auch lange nach dem Absetzen der verursachenden Pharmaka. Typischerweise werden die tardiven Syndrome schlechter oder manifestieren sich erstmals bei Absetzen der DRB und bessern sich bei ihrem Wiedereinsatz oder Erhöhung der Dosis. Sie treten während oder nach Exposition mit DRB auf.
Lediglich das atypische Neuroleptikum
Clozapin ist bisher praktisch nicht in Verbindung mit tardiver Dyskinesie gebracht worden.
Die Diagnose eines tardiven Syndroms stützt sich auf das Erkennen der typischen Bewegungsstörung, der Exposition mit DRB innerhalb von 3 Monaten vor Auftreten der Dyskinesien und Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie beispielsweise Huntington-Chorea und
Morbus Wilson. Darüber hinaus sollten die Dyskinesien über mindestens einen Monat persistieren.
Lokale Injektionen von
Botulinumtoxin A sind für die Behandlung vorwiegend fokaler tardiver
Dystonien in Analogie zu anderen symptomatischen und idiopathischen Dystonievarianten zu empfehlen. Bei behindernden, schweren tardiven Syndromen kommt auch die
tiefe Hirnstimulation therapeutisch in Frage (Vijayakumar und Jankovic
2016).
Facharztfragen
2.
Was ist unter einem tardiven Syndrom zu verstehen?