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Klinische Neurologie
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Publiziert am: 11.10.2018

Medikamenteninduzierte Dyskinesien

Verfasst von: Andrés Ceballos-Baumann
Während die durch Dopaminrezeptorblocker induzierten akuten Dyskinesien mit Anticholinergika leicht zu behandeln sind und nach Absetzen des induzierenden Medikaments sistieren, ist das Kriterium für die tardive Dyskinesie die Persistenz nach Absetzen der kausativen Pharmaka. Unter der tardiven Dyskinesie lassen sich phänomenologisch mindestens drei eigenständige „tardive“ Syndrome differenzieren: die klassische orobukkolinguale Dyskinesie, die tardive Dystonie und die tardive Akathisie. Bei einem eingetretenen tardiven Syndrom sollte ein Absetzen der Dopaminrezeptorblocker oder eine Umstellung auf das atypische Neuroleptikum Clozapin erwogen werden. Die Therapie der tardiven Syndrome ist weiterhin schwierig. An medikamentösen Ansätzen findet international das nebenwirkungsreiche Tetrabenazin am meisten Beachtung. Für die tardive Dystonie kann der Einsatz von Botulinumtoxin und Anticholinergika in Analogie zur Behandlung der idiopathischen Dystonien erwogen werden.
Während die durch Dopaminrezeptorblocker induzierten akuten Dyskinesien mit Anticholinergika leicht zu behandeln sind und nach Absetzen des induzierenden Medikaments sistieren, ist das Kriterium für die tardive Dyskinesie die Persistenz nach Absetzen der kausativen Pharmaka. Unter der tardiven Dyskinesie lassen sich phänomenologisch mindestens drei eigenständige „tardive“ Syndrome differenzieren: die klassische orobukkolinguale Dyskinesie, die tardive Dystonie und die tardive Akathisie. Bei einem eingetretenen tardiven Syndrom sollte ein Absetzen der Dopaminrezeptorblocker oder eine Umstellung auf das atypische Neuroleptikum Clozapin erwogen werden. Die Therapie der tardiven Syndrome ist weiterhin schwierig. An medikamentösen Ansätzen findet international das nebenwirkungsreiche Tetrabenazin am meisten Beachtung. Für die tardive Dystonie kann der Einsatz von Botulinumtoxin und Anticholinergika in Analogie zur Behandlung der idiopathischen Dystonien erwogen werden.

Induzierende Pharmaka

Dopaminrezeptorblocker
Nicht nur bei der antipsychotischen Pharmakotherapie kommt es zu Dyskinesien (Tab. 1). Ähnliche oder identische Pharmaka werden als Tranquillanzien/Anxiolytika (z. B. Fluspirilen), Antiemetika-Antivertiginosa (z. B. Triflupromazin) und Magen-Darm-Mittel (z. B. Metoclopramid) eingesetzt, die die gleichen unerwünschten extrapyramidalen Wirkungen verursachen können. Beispielsweise beträgt das relative Risiko, unter einer Metoclopramid-Therapie eine tardive Dyskinesie zu entwickeln, 1,7 % und für ein medikamentöses Parkinson-Syndrom 4 % (Ganzini et al. 1993). Tiaprid, ein in einigen europäischen Ländern und Israel paradoxerweise eingesetztes „Antihyperkinetikum“, gehört auch zu den Dopaminrezeptorblockern und ist in Verbindung mit malignem neuroleptischem Syndrom, mit medikamentösem Parkinson-Syndrom und akuten sowie tardiven Dyskinesien gebracht worden. Gemeinsamer Nenner der soeben genannten Pharmaka ist ein Antagonismus an zentralen postsynaptischen Dopaminrezeptoren. Der Begriff Dopaminrezeptorblocker (DRB) erscheint daher im Zusammenhang mit Dyskinesien als Überbegriff sinnvoller als Neuroleptika. Zwischenzeitlich treten tardive Dyskinesien am häufigsten unter der Einnahme von atypischen Antipsychotika auf (Loughlin et al. 2019).
Tab. 1
Bewegungsstörungen als unerwünschte Arzneimittelwirkung anhand von Indikations- und Stoffgruppen von Medikamenten bzw. Einzelsubstanzen
Induzierte Bewegungsstörungen
Induzierende Medikamente
Tardive Syndrome, Parkinson-Syndrom, Frühdyskinesien
Dopaminrezeptorblocker (DRB)
 • Neuroleptika (Antipsychotika) mit Ausnahme von Clozapin als Tranquillanzia/Anxiolytika bezeichnete niedrigpotente Neuroleptika, z. B. Fluspirilen, neuere Antipsychotika wie Lurasidon
 • Magen-Darm-Mittel wie Metoclopramid
 • Antiemetika-Antivertiginosa wie Triflupromazin
 • Kalziumantagonisten vom Flunarizin/Cinnarizin-Typ (Akutdyskinesien, nur vereinzelt): Flunarizin Cinnarizin
Weitere Medikamente (vereinzelt)
 • Antiarrhythmikum Flecainid
 • Anxiolytikum Buspiron
 • Appetitzügler, Sympathomimetika Norpseudoephedrin
 • Clenbuterol
Parkinson-Syndrom, Frühdyskinesien inkl. Akathisie, keine tardiven Syndrome
Dopaminspeicherentleerer
 • Reserpin
 • Tetrabenazin
 • Alphamethyl-Parathyrosin
 • α-Methyldopa nur vereinzelt, Besserung von Parkinson auch beschrieben
Akute choreoathetotische Syndrome
Anticholinergika wie Trihexyphenydil. Chorea, insbesondere bei hoch dosierter Therapie bei Dystonie
 • „Zentrales anticholinerges Syndrom“ in der Anästhesie und Intensivmedizin
Antidepressiva
 • Serotoninwiederaufnahmehemmer: Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertalin, Citalopram
 • Vereinzelt: Amitryptilin, Doxepin, Trazodon
Antiepileptika
 • Carbamazepin, Phenytoin vorwiegend bei toxischen Spiegeln, selten Levetiracetam
Antihistaminika bei Kindern
Antimalariamittel (Chloroquin)
Dopamimetika, Psychostimulanzien
 • bei Parkinson-Patienten unter L-Dopa, besonders Retardpräparate, Apomorphin, Lisurid, Bromocriptin, Pergolid
 • Psychostimulanzien Pemolin, Methylphenidat, Fenetyllin, Amfetaminil, Modafinil (bei Überdosierung)
Orale Kontrazeptiva
Weitere Pharmaka: (vereinzelt) Methysergid, Fenfluramin, Mefenaminsäure, Amiodarone, Etoposid, H-2-Blocker wie Cimetidin, Antihistaminika wie Mebhydrolin
Tremor
Fast alle Psychopharmaka, insbesondere
 • Lithium (25 % aller Behandelten)
 • Tri- und tetrazyklische Antidepressiva
Sympathomimetika
Theophyllinderivate
Antiepileptika: insbesondere Valproat
Schilddrüsenmedikamente
Antiphlogistika: Diclofenac
Immunsuppressiva: Methotrexat, Ciclosporin
Andere Substanzen: Alkohol, Yohimbin, Chinidin, Fendilin, Guanethidin, Amiodaron u. a.
Myoklonus
Tri- und tetrazyklische Antidepressiva, Lithium, Etomidate, Kortikosteroide, Diclofenac, INH, Diethylcarbamazin, Piperazin, Dopamimetika
Kalziumantagonisten vom Flunarizin-Cinnarizin-Typ
Flunarizin und Cinnarizin sind im Hinblick auf ihre weltweit verbreitete Verschreibung zur Behandlung von Gleichgewichtsstörungen, von peripheren Zirkulationsstörungen, der Migräne und als Nootropika hervorzuheben. Man kann sie zu den Dopaminrezeptorblockern zählen, da sie strukturell dem Trifluoperazin ähneln und leichte D2-Rezeptor-blockierende Eigenschaften aufweisen.
Antidepressiva, einschließlich Serotoninwiederaufnahmehemmern
Unter den Antidepressiva fallen die Serotoninwiederaufnahmehemmer auf (Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin). Tardive Syndrome treten so gut wie nicht auf. Das rasche Absetzen von Paroxetin sollte vermieden werden, weil dystone Reaktionen auftreten können. Nur ganz vereinzelt sind akute dystone Reaktionen und Chorea beim Einsatz von Antidepressiva wie Amitryptilin, Doxepin und Trazodon beschrieben worden. Alle Antidepressiva, besonders wenn in Kombination mit Monoaminooxidasehemmern eingesetzt, lösen gelegentlich das sog. Serotoninsyndrom aus. Dieses Syndrom ist durch verschiedene Kombinationen von Myoklonus, Rigor, Hyperreflexie, psychiatrischen Symptomen wie Erregung, Bewusstseinsstörungen und autonomen Symptomen wie Flush, Diaphorese sowie Diarrhö gekennzeichnet.
Antiepileptika
Akute Dyskinesien treten im Vergleich zur Ataxie als Komplikation einer Therapie mit Antiepileptika relativ selten auf. Am häufigsten sind sie bei Phenytoin und Carbamazepin beschrieben worden, selten auch bei Levetiracetam (Yim et al. 2019). In der Regel treten die Dyskinesien während der chronischen Einnahme auf oder akut bei i.v.-Verabreichung von Phenytoin und selten beim Einschleichen der Medikamente.
Analog der Ataxie werden die Dyskinesien in der Regel als Toxizitätserscheinung erklärt.
Anticholinergika
Die anticholinerge Therapie mit Trihexyphenidyl bei Dystonie führt bei Besserung der anhaltenden Muskelkontraktionen nicht selten zu anderen Dyskinesien, die man am ehesten als choreatisches Syndrom beschreiben kann. Anticholinergika führen in der Regel zu einer Verschlechterung vorhandener L-Dopa-Dyskinesien und einer neuroleptikainduzierten orobukkolingualen Dyskinesie.
Psychostimulanzien und durch Dopaminergika induzierte Dyskinesien (L-Dopa-Dyskinesien)
Psychostimulanzien wie Pemalon, Methylphenidat, Fenetyllin und Amfetaminil führen zu einer Anreicherung von Dopamin und anderer biogener Amine aus dem synaptischen Spalt. Unter Psychostimulanzien kommt es zur Induktion oder Exazerbationen von Tics bzw. von Tourette-Störungen, seltener zu choreatischen oder dystonen Syndromen. Modafinil kann bei Überdosierung zur Dyskinesie führen (Spiller et al. 2013). Die L-Dopa-Dyskinesien werden in Kap. „Idiopathisches parkinson-Syndrom (IPS)“ behandelt.
Weitere Pharmaka
Es gibt noch weitere Pharmaka, die in keine der oben angeführten Sparten passen und bei denen die Induktion von Dyskinesien bisher nur bei wenigen Patienten beschrieben worden ist. Derartige Fallbeschreibungen müssen im Verhältnis zu der Verbreitung des jeweiligen Medikamentes bewertet werden.

Akute (Früh-) vs. tardive (Spät)dyskinesien bei Dopaminrezeptorblockern

Die mit DRB in Verbindung gebrachten Dyskinesien hat man traditionell in zwei Gruppen eingeteilt: zum einen jene, die früh nach Exposition mit DRB auftreten, die akuten dystonen Reaktionen (90 % innerhalb 4 Tagen) und die akute Akathisie (90 % innerhalb 2 Monaten), zum anderen jene, die nach längerer Einnahme von DRB auftreten und auch nach Absetzen der DRB persistieren, die tardiven Syndrome (s. Übersicht). Tardive Dyskinesien können schon nach wenigen Wochen, in sehr seltenen Fällen sogar innerhalb von Tagen nach Einnahme von DRB auftreten.
Spektrum der durch Dopaminrezeptorblocker (DRB) induzierten Bewegungsstörungen
  • Akute dystone Reaktionen
    • Okulogyre Krisen (tonische konjugierte Blickwendung nach oben)
    • Blepharospasmus
    • Linguale Dystonie (Zungenprotrusionen)
    • Phayrngeale/laryngeale Dystonie („Schlundkrämpfe“)
    • Oromandibuläre Dystonie (Kieferöffnungs-, Schließungstyp)
    • Zervikale Dystonie: Mischbilder aus Retro- (am häufigsten), Torti-, Antero-, Laterokollis
    • Axiale Dystonie, Pisa-Syndrom (axiale Dystonie mit Neigung zu einer Seite), Tortipelvis
    • Opisthotonus (extreme dorsalkonkave Rumpfbeugung nach hinten)
    • Generalisierte Dystonie mit bizarren Extremitätenhaltungen
  • Akathisie („Unfähigkeit zu sitzen“), akut, subakut, chronisch, tardiv
    • „Marching-in-place-Syndrom“
    • Pseudoakathisie (motorische Unruhe ohne innerliche Unruhe)
  • Medikamentöses Parkinson-Syndrom
    • Rabbit-Syndrom („Mümmeln“, Variante des medikamentösen Parkinson-Syndroms, Ruhetremor im Mund-, Kinn-, Kieferbereich)
  • Tardive Syndrome (persistierend)
    • Tardive Dyskinesie (klassische, orobukkolingual betont), oft mit „fly catcher’s tongue“ (schwere Form mit Zungenprotrusionen), Klavierspielphänomen (Extensions-Flexions-Bewegungen der Finger), Beteiligung der Atmung (respiratorische Dyskinesie) und mit rhythmisch wippenden Beckenbewegungen (kopulatorische Dyskinesie)
    • Tardive Dystonie (fokale, segmental, generalisiert), typisch jüngere Männer mit Retrokollis
    • Tardive Akathisie
    • Weitere tardive Syndrome: tardive Tics, okulogyre Krisen, Myoklonus, Tremor, Tourette, tardiver Parkinson?
Als entscheidendes Kriterium, Frühdyskinesien von den tardiven Syndromen zu unterscheiden, gilt die leichte Reversibilität der Frühdyskinesien nach Absetzen der induzierenden Pharmaka. Zu den Frühdyskinesien werden hier die akuten dystonen Reaktionen und die akute Akathisie gezählt.

Akute dystone Reaktionen

Die akuten dystonen Reaktionen treten innerhalb der ersten Stunden bis etwa 5 Tage nach Beginn einer Behandlung mit DRB auf. Meistens kommt es zu fokalen/segmentalen Dystonien im kraniozervikalen Bereich bei Erwachsenen oder zu dem Bild einer akuten generalisierten Dystonie bei Kindern (z. B. bei medikamentöser Prophylaxe der Reisekrankheit). Zu den fokalen/segmentalen Dystonien gehören der Blepharospasmus, okulogyre Krisen (konjugierte tonische Blickwendung, meist nach oben), die zervikale Dystonie typischerweise mit Torti-/Retrokollis, tonischer Kontraktion des Platysmas und der submentalen Muskulatur. Weiterhin zählen dazu pharyngeale Dystonien (Schlundkrämpfe) mit Zungen- und laryngealen Spasmen, die im Extremfall eine Tracheotomie erfordern, oromandibuläre Dystonie mit Zungenprotrusionen sowie tonische Kieferöffnung oder Kieferschließung, die zu Kieferluxationen und Zungenverletzungen führen können. Die oromandibuläre Dystonie kann differenzialdiagnostisch mit Raritäten wie Tetanus, Strychninvergiftung, Katatonie oder Tollwut verwechselt werden. Auch generalisiertere Reaktionen mit Opisthotonus (extreme dorsalkonkave Rumpfbeugung nach hinten), axialer Dystonie mit Skoliose und Körperneigung zu einer Seite (Pisa-Syndrom) treten auf. Akute dystone Reaktionen können sehr schmerzhaft sein und halten Minuten bis Tage an. In sehr seltenen Fällen mündet ein protrahierter Verlauf einer akuten dystonen Reaktion in das maligne neuroleptische Syndrom, das durch Hyperpyrexie, Rigor, Akinese, autonome Störungen, Hyponatriämie und Stupor bis Koma gekennzeichnet ist.
Häufigkeit und Risikofaktoren
Die Inzidenz von akuten dystonen Reaktionen scheint von der Dosierung, von der Wahl des DRB und vom Patientenkollektiv abzuhängen. Je jünger der Patient, desto höher scheint die Inzidenz zu sein. In den Anfängen der Neuroleptikaära wurde die Inzidenz akuter Dyskinesien unter Behandlung mit Phenothiazinen mit 2,3 % angegeben (Ayd 1961). Die Einführung hochpotenter Neuroleptika ließ die Inzidenz auf 15–25 % steigen (Sweet 1975).
Pathophysiologie
Man nimmt an, dass es bei den akuten dystonen Reaktionen zu einer Beeinflussung thalamokortikaler Regelkreise durch die Blockade der hemmenden und exzitatorischen D2-Dopaminrezeptoren im Corpus striatum kommt. Eine vermehrte Ausschüttung von Acetylcholin aus den Interneuronen der striären Matrix würde dabei zu einem Überwiegen des cholinergen Systems führen, womit man sich das gute Ansprechen auf Anticholinergika erklären könnte.
Therapie
Akute dystone Reaktionen lassen sich in der Regel leicht mit langsamer intravenöser Verabreichung von Anticholinergika (Biperiden 5 mg, Benzatropin 2 mg) behandeln und dadurch von anderen Bewegungsstörungen differenzieren. Der Behandlungseffekt ist in der Regel dramatisch: Etwa 10 min nach der Verabreichung des Anticholinergikums kommt es meist zu einem Sistieren der Störung, ansonsten kann die Injektion nach 30 min wiederholt werden. Sofern keine Beobachtung des Patienten gewährleistet ist, sollte eine weiterführende orale anticholinerge Medikation für die nächsten Tage erwogen werden, denn es kann zu einem Wiederauftreten der Dyskinesie kommen, wenn der Effekt der Anticholinergika nachlässt. Das gilt ganz besonders bei Depotneuroleptika. Bei Kontraindikationen gegen Anticholinergika sind Benzodiazepine durch langsame intravenöse Injektion (Clonazepam 1 mg, Diazepam 5–10 mg) evtl. vorzuziehen.

Akute Akathisie

Akathisie heißt „Unfähigkeit zu sitzen“. Subjektiv erlebt der Patient ein quälendes Gefühl der inneren Unruhe, das nach Ansicht mancher Autoren das einzige Symptom darstellen kann. Objektiv äußert sich die Akathisie in einem Umherlaufen, Trippeln, ständigen Gewichtsverlagerungen beim Sitzen, Über- und Entkreuzen der Beine und anderen ungezielten, oft komplexen stereotypen Bewegungen. Wenn eine akute Akathisie auftritt, geschieht dies bei 50 % der behandelten Patienten innerhalb des ersten Monats einer Behandlung mit DRB.
Die akute Akathisie gehört nach frühen Erhebungen zu der häufigsten unerwünschten Wirkung (5–70 % aller Behandelten) von DRB. Sie kann in Extremfällen so beeinträchtigend sein, dass sie zum Suizid führt. Die Differenzierung der Akathisie von Agitiertheit und psychiatrischer Grundkrankheit kann schwierig sein.
Erhöhung der DRB-Dosis führt in der Regel zu einer Verschlechterung der akuten Akathisie und Reduktion zu einer Besserung im Gegensatz zur tardiven Akathisie.
Pathophysiologie
Die subjektive Komponente der Unruhe lässt eine Beteiligung kortikaler Strukturen wahrscheinlich erscheinen. Marsden und Jenner stellten die seit Anfang der 1980er-Jahre weithin beachtete Hypothese auf, dass die Akathisie auf eine funktionelle Reduktion mesokortikaler dopaminerger Projektionen durch eine Blockade der Dopaminrezeptoren bevorzugt im präfrontalen Kortex zurückzuführen sei (Marsden und Jenner 1980).
Therapie
Der Therapieeffekt von Anticholinergika auf die akute Akathisie ist nicht eindeutig. Hingegen können niedrig dosierte lipophile β-Blocker in geringer Dosierung (z. B. Propranolol 3-mal 10 mg/Tag) helfen.

Tardive Syndrome

Unter dem Begriff „tardive Dyskinesie“ kann man heute phänomenologisch mindestens 3 eigenständige Syndrome abgrenzen:
1.
die klassische tardive (orobukkolinguale) Dyskinesie,
 
2.
die tardive Dystonie und
 
3.
die tardive Akathisie.
 
Die tardive Dystonie und die tardive Akathisie sind zwar sicherlich seltener, aber subjektiv und objektiv in der Regel erheblich beeinträchtigender für den Patienten als die klassische orobukkolinguale Dyskinesie, die eher von Mitmenschen als störend empfunden wird.
Darüber hinaus ist das Adjektiv „tardiv“, im Sinne von persistierend nach DRB, auch im Zusammenhang mit Myoklonus, Tourette-Syndrom, Tremor und Parkinson-Syndrom verwendet worden.
Wesentliche Eigenschaft der tardiven Syndrome ist ihre Persistenz auch lange nach dem Absetzen der verursachenden Pharmaka. Typischerweise werden die tardiven Syndrome schlechter oder manifestieren sich erstmals bei Absetzen der DRB und bessern sich bei ihrem Wiedereinsatz oder Erhöhung der Dosis. Sie treten während oder nach Exposition mit DRB auf.
Lediglich das atypische Neuroleptikum Clozapin ist bisher praktisch nicht in Verbindung mit tardiver Dyskinesie gebracht worden.
Die Diagnose eines tardiven Syndroms stützt sich auf das Erkennen der typischen Bewegungsstörung, der Exposition mit DRB innerhalb von 3 Monaten vor Auftreten der Dyskinesien und Ausschluss von Differenzialdiagnosen wie beispielsweise Huntington-Chorea und Morbus Wilson. Darüber hinaus sollten die Dyskinesien über mindestens einen Monat persistieren.
Klassische (orobukkolinguale) tardive Dyskinesie
Die klassische tardive Dyskinesie, vorwiegend orobukkolingual lokalisiert, stellt ein typisches nosologisches Syndrom dar, welches durch kauende, grimassierende Bewegungen im Mund-, Kiefer- und Zungenbereich gekennzeichnet ist. Die Bewegungen sind rhythmisch mit einem Zungenwälzen in Ruhe. Unwillkürliche Schmatzbewegungen kommen dabei ebenfalls vor. Oftmals kommt es zu einem unwillkürlichen Herausfahren der Zunge aus dem Mund („fly catcher’s tongue“). Ein Kriterium für einen ausgeprägten Schweregrad der Störung kann die Unfähigkeit sein, die Zunge willkürlich für einen Moment ruhig herauszustrecken. Die Atmung kann in Mitleidenschaft gezogen sein (respiratorische Dyskinesie). Dabei kann es zu einer merkwürdigen Lautbildung kommen. Häufig sind zusätzliche Flexions-Extensions-Bewegungen der Finger („Klavierspielen in der Luft“) und das als Beckendyskinesie oder kopulatorische Dyskinesie bekannte Vor- und Zurückwippen des Rumpfes zu beobachten. Die Symptomatik ist bei einer ausgeprägten Form so charakteristisch, dass kaum eine Differenzialdiagnose in Betracht kommt (s. folgende Übersicht). Typischerweise verschlechtert sich diese Form der tardiven Dyskinesie im Gegensatz zur tardiven Dystonie unter Anticholinergika.
Differenzialdiagnose des durch Dopaminrezeptorblocker induzierten orobukkolingualen Syndroms
  • Idiopathische/sekundäre (z. B. tardive) oromandibuläre Dystonie (Kieferschluss-, Kieferöffnungstyp)
  • Rabbit-Syndrom (medikamentös induzierter Parkinson-Tremor im Lippen-Kiefer-Bereich)
  • Dyskinesien bei Zahnlosigkeit
  • Stereotypien bei Schizophrenie
  • Spontane senile Dyskinesie?
  • Choreasyndrome
    • Bei degenerativen Krankheiten
      • Huntington-Krankheit
      • Neuroakanthozytose
    • Bei metabolischen Störungen
    • Bei Vaskulitiden, zerebrovaskulären Störungen
Tardive Dystonie
Die tardive Dystonie kann phänomenologisch von einer idiopathischen Dystonie, meistens fokal oder segmental, nicht unterschieden werden, wenn nicht zusätzliche Symptome wie Akathisie oder eine orobukkolinguale Dyskinesie auf die medikamenteninduzierte Form hinweisen (Abb. 1). Im Gegensatz zur orobukkolingualen Dyskinesie tritt die tardive Dystonie meist im jüngeren Alter auf.
Tardive Akathisie
Die tardive Akathisie persistiert auch nach Absetzen der DRB oder tritt erstmals nach Absetzen oder DRB-Dosisreduktion „akut“ auf. Diese Form der Akathisie spricht nicht auf β-Rezeptorblocker an, sondern, wenn überhaupt, wie die klassische orobukkolinguale Dyskinesie auf Dopaminspeicherentleerer (Burke et al. 1989).
Häufigkeit, Risikofaktoren
Die Prävalenz von tardiver Dyskinesie bei psychiatrischen Patienten, die mit Neuroleptika behandelt wurden, wird mit 1,9 % pro Jahr beziffert (Loughlin et al. 2019). Die Prävalenz ist dabei höher bei Patienten mit Schizophrenie oder paranoider Psychose im Vergleich zur Gesamtpopulation.
Pathophysiologie
Die Beobachtung, dass eine Erhöhung oder ein erneuter Einsatz von DRB die tardive Dyskinesie oft wieder lindern kann, wird als klinischer Hinweis für eine Dopaminrezeptorüberempfindlichkeit herangezogen. Daneben wird die GABA-Hypothese diskutiert. Sie fußt auf der Beobachtung, dass der Marker für GABA, die Aktivität der Glutamat-Decarboxylase, im Nucleus subthalamicus, im inneren Pallidum und in der Substantia nigra reticulata bei Affen und Ratten nach chronischer Verabreichung von DRB reduziert ist (Gunne et al. 1984).
Therapie
In der Behandlung tardiver Syndrome werden die vesikulären Typ 2-Monoamin-Transporter-Inhibitoren (VMAT2) Valbenazin und Deutetrabenazin eingesetzt (Citrome 2020). Dabei müssen Nebenwirkungen beachtet werden. Bei etwa 50 % der Patienten kommt es innerhalb von 5 Jahren nach Absetzen von DRB zu einer Rückbildung des tardiven Syndroms. Es sollte daher bei Verdacht auf ein tardives Syndrom eine Überprüfung der Notwendigkeit einer etwaigen DRB-Medikation erfolgen. Wenn die Chance einer Remission wahrgenommen werden soll, muss angestrebt werden, die ursächlichen Pharmaka abzusetzen.
Clozapin
Falls ein Ausschleichen der DRB wegen einer psychiatrischen Grundkrankheit nicht in Frage kommt, sollte eine Umstellung auf Clozapin unter Berücksichtigung der Risiken (Agranulozytose) und den mit diesem Medikament verbundenen praktischen Schwierigkeiten (wöchentliche Blutbildkontrollen, keine Depotdarreichungsform, Compliance etc.) erwogen werden, weil dieses Medikament bisher nicht mit tardiven Syndromen in Verbindung gebracht worden ist.
Dopaminspeicherentleerer
Wenn auch nebenwirkungsreich und von vielen Patienten nicht toleriert, ist die Verabreichung von Tetrabenazin (tägliche Steigerung um 12,5–25 mg auf maximal 250 mg) möglich. Der initiale Therapieversuch findet idealerweise zur Beobachtung von etwaigen Nebenwirkungen wie akuter Akathisie, akuten dystonen Reaktionen und Depression stationär statt. Mit einem Parkinsonoid muss gerechnet werden. Darüber hinaus sind Benzodiazepine in der Regel vorübergehend bei allen tardiven Syndromen subjektiv hilfreich. Anticholinergika verschlechtern in der Regel die klassische orobukkolinguale tardive Dyskinesie.
Spezifische Therapie der tardiven Dystonie
Bei im Vordergrund stehender dystoner Komponente (z. B. schwerem Retrokollis) wird man initial langsam ein Anticholinergikum (Trihexyphenydil, 2 mg, wöchentliche Steigerung) bis zur Verträglichkeitsgrenze einschleichen und Tetrabenazin als Mittel der zweiten Wahl einsetzen. Dosen von über 40 mg Trihexyphenydil sind keine Seltenheit bei Patienten, die auf dieses Medikament angesprochen haben.
Cave
Vorsicht ist geboten bei der Kombination Clozapin und Anticholinergika, weil delirante Zustände dadurch hervorgerufen werden.
Lokale Injektionen von Botulinumtoxin A sind für die Behandlung vorwiegend fokaler tardiver Dystonien in Analogie zu anderen symptomatischen und idiopathischen Dystonievarianten zu empfehlen. Bei behindernden, schweren tardiven Syndromen kommt auch die tiefe Hirnstimulation therapeutisch in Frage (Vijayakumar und Jankovic 2016).

Facharztfragen

1.
Welche Medikamente neben den klassischen Neuroleptika lösen medikamentöse Bewegungsstörungen aus?
 
2.
Was ist unter einem tardiven Syndrom zu verstehen?
 
Literatur
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Ayd F (1961) A survey of drug induced induced extrapyramidal reactions. JAMA 175:1054–1060CrossRef
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Citrome LL (2020) Medication options and clinical strategies for treating tardive dyskinesia. J Clin Psychiatry 81(2). pii: TV18059BR2C. https://​doi.​org/​10.​4088/​JCP.​TV18059BR2C
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