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Andrologie
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Publiziert am: 01.01.2022

XX-Mann und XYY-Karyotyp

Verfasst von: F. Tüttelmann und E. Nieschlag
XX-Männer mit weiblichem Karyotyp (46,XX) sind phänotypisch männlich und besitzen weder innere noch äußere weibliche Genitalorgane. Die Prävalenz ist mit 1:10.000 bis 1:20.000 deutlich geringer als das Klinefelter-Syndrom. Die meisten XX-Männer weisen eine ursächliche Translokation des SRY-Gens auf (80–90 % SRY-positiv). XX-Männer haben eine schwere Hodenentwicklungsstörung und bilden keine Spermien, so dass eine Hodenbiopsie bei Kinderwunsch nicht indiziert ist. Häufig liegt ein substitutionsbedürftiger Testosteronmangel vor.
Männer mit XYY-Karyotyp werden meist zufällig, z. B. wegen Infertilität, entdeckt, die mit konventionellen oder Verfahren der assistierten Reproduktion behandelt werden können.

XX-Mann

Definition und Epidemiologie

XX-Männer mit weiblichem Karyotyp (46,XX) sind phänotypisch männlich und besitzen weder innere noch äußere weibliche Genitalorgane. Diese Auffälligkeit weist eine Prävalenz von 1:10.000 bis 1:20.000 männliche Neugeborene auf.
Ein weiblicher Karyotyp, also eine XX-Konstellation der Geschlechtschromosomen (Karyotyp 46,XX) ist bei ansonsten (weitgehend) unauffälligen Jungen/Männern sehr viel seltener als das Klinefelter-Syndrom (47,XXY; „Klinefelter-Syndrom“). Als Bezeichnungen sind XX-Mann, auch 46,XX-DSD (Differences [ehemals Disorders] of Sex Development), und De la Chapelle-Syndrom nach dem Erstbeschreiber (de la Chapelle et al. 1964) gebräuchlich. Abzugrenzen sind andere XX-DSD-Formen, die mit intersexuellem Genitale einhergehen wie z. B. bei einem ausgeprägten Adrenogenitalen Syndrom mit starker Virilisierung („Varianten der Geschlechtsentwicklung“).
Die Diagnose kann pränatal als Zufallsbefund, bei Jungen z. B. bei ausbleibender oder verzögerter Pubertät, oder am häufigsten bei Männern mit ungewollter Kinderlosigkeit gestellt werden. In einem chinesischen andrologischen Zentrum wurden unter 183.342 Patienten, von denen bei 85.352 ein Karyotyp angefertigt wurde, 160 mit 46,XX-Konstellation entdeckt, womit sich eine Inzidenz von etwa 1 pro 1000 infertile Männer ergibt (Chen et al. 2020). In einem iranischen Zentrum wurden unter 8114 Patienten mit Azoospermie oder ausgeprägter Oligozoospermie 57 mit Karyotyp 46,XX diagnostiziert (Mohammadpour Lashkari et al. 2017).

Genetik

Bei 80–90 % der XX-Männer erklärt sich der scheinbar paradoxe Befund aus weiblichem Karyotyp und männlich differenziertem Individuum durch eine Translokation von Y-chromosomalem Material inkl. dem SRY-Lokus auf eines der beiden X-Chromosomen (SRY-positiv). Diese Translokation entsteht durch zufälliges Crossing-Over bei der Keimzellbildung des Vaters (Abb. 1). Die auf das X-Chromosom übertragene Region enthält das Gen SRY (Sex Determining Region Y), das auch als „Testis Determining Factor“ (TDF) bezeichnet wurde. Tatsächlich ist das SRY-Gen alleine ausreichend, um in einem XX-Embryo die bi-potente Gonade in Richtung Hoden zu determinieren. Die Chromosomenanalyse wird beim überraschenden Befund 46,XX bei der Probe eines Mannes um eine Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung (FISH) bzgl. des SRY-Lokus ergänzt (Abb. 2), um die Translokation nachzuweisen.
Bei 10–20 % der XX-Männer wird keine SRY-Translokation nachgewiesen; diese werden als SRY-negativ bezeichnet. Bei diesen Patienten finden sich als häufigste Ursache Duplikationen in regulatorischen Einheiten vor dem SOX9-Gen auf Chromosom 11. Das SOX9-Gen (SRY-box transcription factor 9) ist in der Kaskade der Geschlechtsdeterminierung sehr eng mit SRY verbunden und eine erhöhte Dosis (durch die Duplikation) scheint auch ohne SRY die Gonade in die männliche Richtung zu determinieren. Wenn bei einem XX-Mann zusätzlich eine palmoplantare Hyperkeratose und gegebenenfalls ein Karzinom vorliegen, kommen außerdem Mutationen im R-spondin 1-Gen (RSPO1) als extrem seltene Ursache der XX-DSD in Frage (Parma et al. 2006). Mittels der aktuellen diagnostischen Möglichkeiten können noch nicht alle XX-Männer ursächlich geklärt werden.

Klinik

Klinisch sind XX-Männer meist kaum von Klinefelter-Patienten zu unterscheiden und erst der Karyotyp ergibt die Diagnose. Die Hoden sind sehr klein (1–2 ml) und fest und die endokrine Hodenfunktion ist häufig insuffizient mit erniedrigtem Testosteronserumspiegel und erhöhten LH- und FSH-Werten. Die Virilisierung kann, insbesondere bei SRY-negativen XX-Männern geringer sein als bei Klinefelter-Männern. Häufig findet sich eine feminine Fettverteilung. Hodenhochstand (meist beidseitig) und Gynäkomastie sind häufiger als beim Klinefelter-Syndrom (Abb. 3). Wenn Testosteron unter die Normalgrenze absinkt, kommt es zu verminderter Libido und erektiler Dysfunktion.
Darüber hinaus kommen Auffälligkeiten aus dem DSD-Spektrum wie Hypospadie als mildeste Form aber auch Skrotum bifidum vor. Die Patienten verfügen über eine normale Intelligenz. Die Körperlänge ist nicht nur geringer als bei Klinefelter-Patienten, die im Durchschnitt größer als 46,XY-Männer sind, sondern liegt im Bereich normaler Frauen (Vorona et al. 2007). Dies ist wahrscheinlich in der unterschiedlichen Kopienzahl des SHOX-Gens begründet, das in der PAR-Region auf X- und Y-Chromosom liegt und ein Hauptfaktor für das Längenwachstum ist. Dementsprechend haben Klinefelter-Männer drei SHOX-Kopien und XX-Männer genauso wie Frauen zwei. In der präpubertären Zeit können kardiale Anomalien zur Diagnose führen (Fechner et al. 1993). Diagnostisch empfiehlt sich ein Ultraschall des Abdomens, um residuale Strukturen der Müllergange zu entdecken (Terribile et al. 2019).
Sowohl bei SRY-positiven als auch SRY-negativen XX-Männern fehlen die größten bzw. alle Teile des Y-Chromosoms, u. a. die für die Spermatogenese essenziellen AZF-Regionen („Strukturelle Chromosomenanomalien, Y-chromosomale AZF Mikrodeletionen“). Dementsprechend sind XX-Männer infertil aufgrund einer schweren Störung der Hodenanlage, die von einem Sertoli cell-only (SCO) Phänotyp (Li et al. 2014) bis zur Gonadendysgenesie reichen kann. Eine Hodenbiopsie mit dem Versuch der testikulären Spermienextraktion (TESE) ist nicht indiziert (Terribile et al. 2019). Bei einem, nicht selten vorliegenden, endokrinen Hypogonadismus sollte eine Substitutionstherapie mit Testosteron begonnen werden („Therapie mit Testosteron“).

XYY-Karyotyp

Männer mit dem Karyotyp 47,XYY sind klinisch meist unauffällig. Die Inzidenz wird bei 1:1000 bis 1:2000 vermutet, von denen aber zeitlebens nur 20 % diagnostiziert werden (Berglund et al. 2019). Als Gruppe betrachtet, weisen sie eine 7 cm über dem Durchschnitt liegende Körpergröße als Männer mit 46,XY-Chromosomensatz auf. Im Gegensatz zu Patienten mit Klinefelter-Syndrom sind diese Männer oft fertil, wenn auch einige eine Oligozoospermie oder Azoospermie aufweisen, die möglicherweise aber auch eine andere Ursache hat. Der Nachweis des 47,XYY-Karyotyps bei einem infertilen Mann sollte insofern nicht unkritisch mit dem Nachweis der Ursache gleichgesetzt werden.
Der Intelligenzquotient liegt innerhalb der Normspanne, allerdings im Mittel um circa 10 Punkte unter dem Niveau chromosomal normaler Männer. Etwa ein Drittel der Betroffenen weisen Autismus-Spektrum Störungen (Autism Spectrum Disorders ASD) und Verhaltensstörungen auf (Joseph et al. 2018). Eine höhere Morbidität und Hospitalisierung wegen angeborener Fehlbildungen, neurologischer und psychiatrischen Störungen, respiratorischer und urogenitaler Erkrankungen führen zu einer etwa 10 Jahre kürzeren Lebenserwartung als in der generellen männlichen Bevölkerung (Berglund et al. 2020; Stochholm et al. 2010).
Viel Beachtung hat die Beobachtung gefunden, dass 47,XYY-Individuen offenbar häufiger als andere Männer kriminell auffällig werden, meist durch Eigentumsdelikte, sexuelle Straftaten und Brandstiftung. Eine sozioökonomische Stratifizierung hat das kriminelle Verhalten jedoch relativiert (Stochholm et al. 2012). Es muss betont werden, dass die große Mehrzahl der Männer mit 47,XYY-Chromosomensatz völlig normale Verhaltensmuster aufweist und eine Stigmatisierung aufgrund eines Karyotyps vermieden werden muss. Kinder und Jugendliche mit dem 47,XYY-Karyotyp bereiten ihren Erziehern häufiger als andere durch Impulsivität, verminderte Frustrationstoleranz und soziale Unangepasstheit Probleme.
Die Ursache des XYY-Chromosomensatzes liegt in einer Non-Disjunction in der väterlichen Meiose. Die Diagnose wird meist als Zufallsbefund bei einer aus einem anderen Grund veranlassten Karyotypisierung gestellt. Liegt bei einem Mann mit 47,XYY-Karyotyp eine Spermatogenesestörung vor, gelten die gleichen Behandlungsrichtlinien wie bei idiopathischer männlicher Infertilität und für die assistierte Reproduktion. Die Kinder von 47,XYY-Männern haben fast immer einen normalen Chromosomensatz. Eine pränatale Karyotypisierung kann angeboten werden, insbesondere dann, wenn die Schwangerschaft durch assistierte Reproduktion entstanden ist.

Zusammenfassung

  • XX-Männer mit weiblichem Karyotyp (46,XX) sind phänotypisch männlich und besitzen weder innere noch äußere weibliche Genitalorgane.
  • Die Prävalenz ist mit 1:10.000 bis 1:20.000 deutlich geringer als das Klinefelter-Syndrom.
  • Die meisten XX-Männer weisen eine ursächliche Translokation des SRY-Gens auf (80–90 % SRY-positiv).
  • XX-Männer haben eine schwere Hodenentwicklungsstörung und bilden keine Spermien, so dass eine Hodenbiopsie bei Kinderwunsch nicht indiziert ist.
  • Häufig liegt bei XX-Männern ein substitutionsbedürftiger Testosteronmangel vor.
  • Männer mit XYY-Karyotyp werden meist zufällig, z. B. wegen Infertilität, entdeckt, die mit konventionellen oder Verfahren der assistierter Reproduktion behandelt werden kann.
Literatur
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