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Thalassämie

Verfasst von: Heike Kaltofen, Uta Emmig, Dierk A. Vagts und Peter Biro
Synonyme
Cooley-Anämie; Mittelmeeranämie
Oberbegriffe
Hämoglobinsynthesestörung.
Organe/Organsysteme
Hämatopoetisches System, Blut.
Inzidenz
Verbreitung v. a. im Mittelmeerraum und in Südostasien, durch Migration jedoch zunehmende Bedeutung im zentraleuropäischen Raum.
Ätiologie
Thalassämie ist der Oberbegriff für eine heterogene Krankheitsgruppe mit Störung der Hämoglobinsynthese. Verschiedene Gendefekte können dabei auf den Chromosomen 16 oder 11 (α-Thalassämie bzw. β-Thalassämie) lokalisiert sein. Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt.
Die ältere Nomenklatur nimmt Bezug auf den klinischen Schweregrad der Erkrankung. Mit Thalassaemia major wird die homozygote, mit Thalassaemia minor die heterozygote Form der Erkrankung bezeichnet.
Die aktuelle Nomenklatur richtet sich nach den veränderten Globinketten. Die α-Thalassämie ist durch eine reduzierte Syntheserate für α-Ketten charakterisiert (α0 bezeichnet das gänzliche Fehlen der α-Ketten, α+ eine reduzierte α-Kettensynthese), bei der β-Thalassämie ist die Syntheserate für β-Ketten betroffen (Nomenklatur: β0, β+ wie oben). Die Folge der Erkrankung ist eine ineffektive Erythropoese und verkürzte Überlebenszeit der Erythrozyten mit gesteigerter peripherer Hämolyse durch Sequestration in der Milz.
Klassifikation der Thalassämie-Varianten nach ICD-10:
  • D56.0 Alpha-Thalassämie
  • D56.1 Beta-Thalassämie
  • D56.2 Delta-Beta-Thalassämie
  • D56.3 Thalassaemia minor (Erbanlage/Trait)
  • D56.4 Hereditäre Persistenz fetalen Hämoglobins (HPFH)
  • D56.8 Sonstige Thalassämien
  • D56.9 Thalassämie, nicht näher bezeichnet
  • D57.2 Sichelzell-Thalassämie
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Sichelzellanämie.

Symptome

Es besteht eine große Symptomvariabilität, je nach Genotyp der Erkrankung. Eine milde, mikrozytäre und zumeist asymptomatische Anämie kann die einzige Krankheitsmanifestation sein (Thalassaemia minor). Ikterus, Hepatosplenomegalie und Cholelithiasis können klinische Manifestationen der Thalassämie sein. Durch Infektionen, Einnahme oxidierender Medikamente sowie während der Schwangerschaft kann sich die bestehende Anämie verstärken. Skelettanomalien finden sich bei etwa einem Drittel der Patienten. Die schwere Form der α-Thalassämie führt zum Hydrops fetalis mit intrauterinem Fruchttod oder Tod nach der Geburt.
Die β-Thalassämie ist klinisch meist bedeutsamer als die α-Thalassämie. Durch die ineffiziente Erythropoese und vermehrte Hämolyse kommt es zu einer ausgeprägten Anämie und Eisenüberladung.
Patienten mit homozygotem Erkrankungstyp zeigen bereits im Kleinkindalter die klinische Symptomtrias der Cooley-Anämie mit Knochendeformitäten, Splenomegalie und Anämie. Am Schädel manifestiert sich die gesteigerte Erythropoese mit Hyperplasie des Knochenmarks und Expansion der Markräume in den Diploe, der radiologische Befund des parallelen zentrifugalen Musters wird mit dem Begriff Bürstenschädel bezeichnet. Darüber hinaus sind die Wangenknochen meist prominent ausgebildet und es kommt zu einer Malokklusion des Kiefers. Bei der hämatologischen Untersuchung findet sich eine mikrozytäre, hypochrome Anämie, typisch ist das Auftreten von unterschiedlich geformten Erythrozyten (Anisozytose) und Schießscheibenzellen. Erythrozytäre Membranveränderungen und Aktivierung von Thrombozyten und von Gefäßendothel bedingen eine erhöhte Thromboseneigung.
Ohne Therapie kommt es bei der β-Thalassämie zum Tod innerhalb der ersten 5 Lebensjahre.
Durch die erhöhte Eisenablagerung in Herz, Lunge, Leber und endokrinen Organen als Folge der chronischen Transfusionstherapie und vermehrter intestinaler Eisenresorption kommt es längerfristig zur Entwicklung von Kardiomyopathie, pulmonaler Hypertonie, Herzinsuffizienz, restriktiven Ventilationsstörungen, Leberzirrhose und Insulinresistenz mit gesteigerter Insulinausschüttung sowie Hypothyreose und Hypogonadismus.
Vergesellschaftet mit
Extramedulläre Blutbildung mit Tumorbildung insbesondere paravertebral. Pathologische Frakturen der Extremitätenknochen. Osteoporose, Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper. Kompression des Rückenmarks mit neurologischen Ausfällen. Das Ausmaß der Osteopathie ist Ausdruck einer unzureichenden Transfusionstherapie. Als Spätkomplikationen kann es bei erwachsenen Patienten zu Herzversagen, Arrhythmien, Diabetes, transfusionsbedingten Komplikationen und Thrombosen kommen.
Therapie
Therapie der chronischen Anämie ist die regelmäßige Transfusion. Ziel ist ein Hämaglobingehalt von 9–10 g/dl. In der Regel ist die Splenektomie erforderlich, damit eine weitere Erythrozytensequestration in der vergrößerten Milz verhindert wird. Alle Formen der Thalassämie gehen mit einer Eisenüberladung einher. Durch die Therapie mit Chelatbildnern, z. B. Desferoxamin oder das oral applizierbare Deferasirox, kann die Entwicklung einer Hämosiderose abgeschwächt werden. Die Gabe von Askorbinsäure steigert die Eisenexkretion zusätzlich.
Die allogene Stammzelltransplantation von einem HLA-identischen, verwandten Spender ist insbesondere bei Kindern mit Thalassaemia major ohne bestehende Hämosiderose die Therapie der Wahl, jedoch besteht das Risiko einer Abstoßungsreaktion.
Gentherapeutische Ansätze sind Gegenstand laufender Forschung.

Anästhesierelevanz

Ein typischer Anästhesieanlass ist insbesondere bei Kindern die Splenektomie. Ausgeprägte Verformungen des Gesichtsschädels können zu Intubationsschwierigkeiten führen. Durch die verlängerte Überlebenszeit kommen vermehrt Patienten zur geburtshilflichen Betreuung mit eventuell erforderlicher anästhesiologischer Beteiligung.
Spezielle präoperative Abklärung
Die sorgfältige Evaluation des oberen Atemwegs ist erforderlich, um eventuelle Intubationsschwierigkeiten zu erfassen. Die Anamnese sollte das Ausmaß der Organbeteiligung klären, insbesondere den kardiopulmonalen Status des Patienten. EKG und Echokardiographie sowie Lungenfunktionsprüfung können als Zusatzuntersuchungen indiziert sein. Die Leberfunktion muss durch sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchung und Bestimmung der leberspezifischen Laborparameter erfasst werden. Zum Ausschluss einer Niereninsuffizienz bei Therapie mit Deferasirox ist eine Kontrolle der Nierenfunktionswerte erforderlich.
Wichtiges Monitoring
Hämoglobin, Blutzucker, Transaminasen, Bilirubin, Quick, PTT, Nierenfunktionswerte, EKG, Echokardiographie bei Hämosiderose.
Großzügige Indikationsstellung für arterielles und zentralvenöses Monitoring.
Vorgehen
Bei elektiven Operationen müssen eine präoperativ bestehende Anämie und eventuell entgleiste Stoffwechsellage ausgeglichen werden. Häufig haben sich bei den Patienten infolge wiederholter Transfusionen irreguläre Erythrozytenantikörper ausgebildet, so dass die Beschaffung von geeigneten Blutkonserven sehr zeitintensiv sein kann. Bei Patienten mit kraniofazialen Missbildungen müssen alle Vorbereitungen zur Bewältigung eines schwierigen Atemweges getroffen sein. Vorgehen der Wahl sollte die fiberoptische Intubation unter Spontanatmung sein. Eine nasale Intubation kann aufgrund der Schädeldeformitäten nicht durchführbar sein.
Grundsätzlich ist sowohl eine Regionalanästhesie als auch eine Allgemeinanästhesie möglich. Bei der Allgemeinanästhesie ist zu bedenken, dass Anästhetika mit hepatischer Elimination bei dem Vorliegen einer Hämosiderose eine verlängerte Wirkdauer haben können. Bei regionalanästhesiologischen Verfahren ist beim Vorliegen einer durch Hypersplenismus bedingten Thrombozytopenie mit vermehrten Blutungskomplikationen zu rechnen, rückenmarknahe Verfahren könnten dann kontraindiziert sein. Außerdem kann bei langem Krankheitsverlauf eine raumfordernde spinale oder epidurale extramedulläre Blutbildung vorliegen. Falls weitere Hinweise auf extramedulläre Hämatopoese bestehen, kann eine MRT-Untersuchung diesen Umstand bestätigen oder ausschließen. Bei Eingriffen mit erwartetem hohem Blutverlust sollte die maschinelle Autotransfusion eingesetzt werden, um die Gabe von Fremdblut zu vermeiden. Allerdings sollte einem möglicherweise erhöhten Hämolyserisiko jm Rahmen der Aufbereitung Rechnung getragen werden. Das Blut sollte mit möglichst niedrigem Druck abgesaugt werden. Für die Retransfusion werden Leukozytenfilter empfohlen. Bisher existieren hierzu erst wenige Fallberichte, die jedoch eine komplikationslose Retransfusion bescheinigen. Im Rahmen des Einsatzes extrakorporaler Blutzirkulationsverfahren muss mit einer erhöhten Hämolyserate gerechnet werden.
Aufgrund des erhöhten Risikos für Thromboembolien ist auf eine frühzeitige postoperative Mobilisation und entsprechende Thromboseprophylaxe zu achten. Dies gilt insbesondere für Patienten, die bereits splenektomiert sind. Nach Splenektomie ist ein erhöhtes Risiko für bakterielle Infektionen zu beachten. Präoperative Impfung gegen die wichtigsten Erreger sowie eine antibiotische Therapie sind indiziert.
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