Skip to main content

Open Access 13.05.2024 | Altenpflege | Originalarbeit

Das Projekt Wohl.Fühlen

Gewaltprävention und sexuelle Selbstbestimmung in (teil)stationären Pflegeeinrichtungen in Niedersachsen und Bremen

verfasst von: Prof. Dr. Nina Fleischmann, Emily Zoe Dietrich

Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung

Zusammenfassung

Hintergrund

In einer alternden Gesellschaft und damit steigenden Zahl von in Pflegeeinrichtungen lebenden Menschen gibt es in diesem Setting Bedarf, gesundheitsfördernde und präventive Konzepte zu entwickeln und anzubieten. Grundlage hierzu ist das 2015 verabschiedete Präventionsgesetz.

Ziel der Arbeit

Sechs voll- und teilstationäre Einrichtungen in Niedersachsen und Bremen wurden begleitet, gesundheitsfördernde und präventive Konzepte auf partizipativer Ebene zu entwickeln. Das Projekt Wohl.Fühlen greift mit Gewaltprävention und sexueller Selbstbestimmung zwei Themen auf, die bisher in diesem Kontext nur selten adressiert werden. Diese Arbeit berichtet den Anteil der Evaluation.

Material und Methoden

Ein exploratives Design und qualitative Methoden wurden angewendet. In den Einrichtungen wurden Steuerungsgruppen mit heterogener Zusammensetzung gebildet und Personen aus eben diesen interviewt.

Ergebnisse

Durch das Projekt sind ein stärkeres Bewusstsein und Sensibilität für die fokussierten Themen entstanden. Veränderungen werden außerhalb der Steuerungsgruppen wenig wahrgenommen. Es besteht die Annahme, dass konkrete Veränderungen erst später sichtbar werden können. Vernetzung hat stattgefunden und wird als hilfreich wahrgenommen, zeigt aber noch Ausbaupotentiale.

Diskussion

Die Barrieren in Strukturen und Rahmenbedingungen (teil)stationärer Altenpflege bestätigen sich auch in der Evaluation anderer Projekte im Kontext des Präventionsgesetzes. Insbesondere im Kontext der COVID-19-Pandemie hat das Thema Gewaltprävention nochmals an Bedeutung gewonnen.

Schlussfolgerung

Sexualität und die Vorbeugung von gewaltbehafteten Situationen sind essentielle Themen in Pflegeeinrichtungen. Wohl.Fühlen hat Wege aufgezeigt, sensible Themen besprechbar zu machen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Hinführung zum Thema

Das Präventionsgesetz von 2015 greift dort, wo Menschen leben, lernen und arbeiten. Eine dieser Lebenswelten sind (teil)stationäre Pflegeeinrichtungen. 2022 lebten rund 19,1 % der pflegebedürftigen Menschen in einer der 16.100 vollstationären Einrichtungen [1, 10], 139.219 Menschen besuchten 2019 zudem Einrichtungen der Tagespflege [2]. Studien belegen Potenziale der Gesundheitsförderung bei Pflegebedürftigen: Hilfebedarfe können verringert und die Lebensqualität gesteigert werden. Die Wirksamkeit einzelner Interventionen ist dabei heterogen [5, 14, 16].

Hintergrund und Fragestellung

Pflegekassen sind nach § 5 SGB XI verpflichtet, jährlich 0,32 € pro Versicherten in (teil)stationären Pflegeeinrichtungen für gesundheitsfördernde und präventive Leistungen einzusetzen, die mit den Pflegebedürftigen und Einrichtungen partizipativ entwickelt werden. Der GKV-Spitzenverband hat mit einem 2016 erstellten und zuletzt im September 2023 aktualisierten Leitfaden Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen nach § 5 SGB XI ein Rahmenwerk bereitgestellt und die Handlungsfelder Ernährung, körperliche Aktivität, kognitive Ressourcen, psychosoziale Gesundheit sowie Prävention von Gewalt formuliert [8].
Unter Gewalt in der Pflege versteht die WHO „a single or repeated act or lack of appropriate action, occurring within any relationship where there is an expectation of trust which causes harm or distress to an older person“ [19]. Auch Angehörige oder Pflegende können von Gewalt betroffen sein. Gewalt zeigt sich in Formen physischer, psychischer und sexueller Gewalt, Vernachlässigung oder finanzieller Ausbeutung. Zur Häufigkeit und Art von Maßnahmen zur Gewaltprävention fehlt es an belastbaren Daten. Das Handlungsfeld Prävention von Gewalt ist mit 18 % das nach dem Handlungsfeld Ernährung am seltensten adressierte Handlungsfeld in der Umsetzung [11], auch wenn die Häufigkeit der Publikationen in Fachzeitschriften auf die Bedeutsamkeit hinweist [16].
Sexuelle Gesundheit ist während der gesamten Lebenszeit relevant. Sexuelle Gesundheit ist „fundamental to the overall health and well-being of individuals, couples and families“ [18] und hängt u. a. davon ab, inwieweit die Umgebung dies bejahe, fördere und die Rechte auf Privatsphäre, Gleichheit und Nicht-Diskriminierung beachte [18]. Im Pflegealltag wird Sexualität im Alter oder bei Krankheit häufig tabuisiert. Trotz der Anerkennung als Grundbedürfnis wie Essen und Schlafen gibt es keinen definierten Pflegeauftrag und wenig konzeptionelle Ansätze [17].
Das Projekt Wohl.Fühlen (September 2019 bis März 2023) befasste sich mit den Themen Prävention von Gewalt sowie sexuelle Selbstbestimmung im Alter als Teil der psychosozialen Gesundheit. Der Bedarf, beide Themen aufzugreifen, zeigte sich bereits im Vorgängerprojekt [6]. Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V. hat das Projekt Wohl.Fühlen in Kooperation mit dem pro familia Landesverband Niedersachen e. V. unter Gesamtförderung der BARMER Niedersachsen/Bremen in vier voll- und zwei teilstationären Einrichtungen in Niedersachsen und Bremen durchgeführt. Die Abteilung Pflege und Gesundheit der Fakultät V der Hochschule Hannover hat die wissenschaftliche Begleitung vorgenommen. Die Einrichtungen sind dem Gesundheitsförderungsprozess [8] gefolgt und haben in Steuerungsgruppen mit partizipativen Methoden individuelle Maßnahmen und Konzepte zur Gesundheitsförderung und Prävention erarbeitet. Die Steuerungsgruppen bestanden aus Bewohner*innen bzw. Tagesgästen, Angehörigen sowie Mitarbeitenden aller Arbeitsbereiche. Zudem waren die Verstetigung der Maßnahmen und die Vernetzung der Einrichtungen untereinander und mit den Kooperationspartnern Ziele des Projekts. Im Projekt entstandene Maßnahmen und Konzepte sind an anderer Stelle publiziert [3, 4, 9].
Dieser Beitrag berichtet Vorgehen und Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts Wohl.Fühlen zum Ende der Projektlaufzeit. Die leitenden Fragen der wissenschaftlichen Begleitung lauten dabei: Welche Veränderungen haben sich durch das Projekt ergeben? Wie ist die Vernetzung gelungen?

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren genutzt. Diese ermöglichen eine Nachvollziehbarkeit und Verstehen der Sichtweisen der beteiligten Personen und tiefe Einsichten in das Erleben. Individuelle Bedeutungen, Zusammenhänge und soziale Interaktionen werden zur Rekonstruktion subjektiver Wirklichkeit exploriert [12].
Teilnehmende der Erhebung waren Personen aus den Steuerungsgruppen der Projekteinrichtungen. Zur freiwilligen Teilnahme eingeladen wurde über Information in den Treffen der Steuerungsgruppen und persönliche Einladung. Die Projektleitungen in den Einrichtungen unterstützten im Zugang zum Sample bzw. gehörten diesem selbst an. Die Teilnehmenden wurden durch ein adressatengerechtes Informationsschreiben sowie zusätzliche mündliche Informationen zu Inhalten, Zielen und Datenschutz informiert. Beide Autorinnen verfügen über einen pflegewissenschaftlichen Hintergrund und führten die qualitativen Einzelinterviews in den Einrichtungen durch. Die aufgezeichneten Audiodateien wurden transkribiert und pseudonymisiert.
Die Interviews folgten einem Leitfaden, der erzählstimulierende offene Hauptfragen zu vier Themenbereichen umfasste: (1) Retrospektive auf den Projektbeginn, (2) aktueller Projektstand, (3) Veränderungen und Bewertung der Veränderungen sowie (4) Vernetzung. Insgesamt nahmen zwischen Oktober 2022 und März 2023 16 Personen an den Interviews teil: 3 Bewohner*innen, eine angehörige Person und 12 Mitarbeitende aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Die Interviews dauerten zwischen 8:50 und 43:24 min (durchschnittlich 22:37 min). Insgesamt ergaben sich 6 h und 2 min Audiodateimaterial.
Die Inhaltsanalyse folgte dem Ansatz von Mayring [13]. Die Kategorien wurden induktiv gebildet. Textpassagen, die für die Beantwortung der Forschungsfragen keinen inhaltlichen Wert hatten, blieben unkodiert. Die Kodierung wurde von je einer Autorin durchgeführt und von der zweiten geprüft. Differenzen wurden diskutiert und konsentiert. Es wurden drei Kategorien identifiziert (Tab. 1). Für die in der Erhebung identifizierten Themen liegt Datensättigung vor.
Tab. 1
Kategorien
Kategorie
Erläuterung
Veränderung
Aspekte zu mit dem Projekt und den Projektthemen in Verbindung stehenden Aktivitäten, Handlungen und Ergebnisse
Bewertung
Aspekte zur Eigen- und/oder Fremdbewertung der Aktivitäten, Handlungen und Ergebnisse
Vernetzung
Aspekte zum Charakter der Vernetzung, mit wem und zu welchem Zweck,
Aspekte zu Barrieren und Chancen der Vernetzung,
Sinneinheiten, die auf die Frage zur Vernetzung antworten mit einem eigenen, individuellen Verständnis von Vernetzung,
Sinneinheiten zur Bewertung der Vernetzung

Ergebnisse

Im Folgenden werden die Ergebnisse der obigen Kategorien vorgestellt.

Veränderung

Es wird berichtet, dass durch das Projekt das Bewusstsein für die Themen Sexualität, Gewalt und Wohlfühlen gestiegen ist.
„Sicherlich war mir immer so klar, Berührung, Nähe ist ganz, ganz wichtig. Aber das wirklich auch thematisch so auf den Punkt zu bringen, das ist wirklich durch dieses Projekt gekommen.“ [I18: Z. 47–49]
Fortbildungen für Mitarbeitende zu Gesprächsführung bei sensiblen Themen, Gewalt in der Pflege und Sexualität sowie für Führungskräfte zu Rollen wurden angeboten, wahrgenommen und sollen auf das gesamte Team ausgeweitet werden. Insbesondere die Fortbildungen in der Gesprächsführung haben Mitarbeitende mutiger und offener gemacht. Bewohner*innen/Tagesgäste öffnen sich in kleinen Gesprächsgruppen eher. Die Menschen in den Einrichtungen werden als zugänglicher, großzügiger und kontaktfreudiger erlebt. Durch das Projekt konnten Bedürfnisse individuell(er) erfasst, eine intensive Auseinandersetzung ermöglicht und Maßnahmen initiiert werden.
„Die Gedanken sind viel größer als damals, weil ich sehe, das kann man noch mehr machen für Wohlfühlen für Bewohner und auch für Angehörige.“ [I23: Z. 30–32]
Es wurden u. a. Besuche eines Clowns, einer Märchenerzählerin, eines Zauberers, eines Pastors, eines Musikers mit validierender Erinnerungsarbeit, Besuch von Kindergartenkindern, Tierbesuche, ein Eiswagen, Theater aus der Truhe, Tellington-Handmassagen und Rikschafahrten realisiert. Bei diesen Maßnahmen wurden bis dato unbekannte Ressourcen der Bewohner*innen wie beispielsweise die Erinnerung an Liedtexte aus der eigenen Jugend sichtbar. Die Maßnahmen werden vom begleitenden Dienst organisiert, abgestimmt, besprochen und z. T. auch selbst umgesetzt.
Weitere Aktionen sollen folgen. Ein Rückzugsraum für Bewohner*innen und Angehörige ist geplant, ebenso die Beantragung eines „Wohlfühlwagens“. Im Eingangsbereich einer Einrichtung soll ein Monitor aufgestellt werden und die von Bewohner*innen entwickelten Plakate und Leitsätze zur Gewaltprävention und dem allgemeinen Umgang miteinander präsentiert werden. Das Gewaltpräventionskonzept innerhalb der Einrichtung wurde im Rahmen des Projekts überarbeitet.
„Also [die Bewohner*innen] haben solche Sachen gesagt wie, nicht übereinander reden, direkt ansprechen, nicht anschreien, Krankheiten akzeptieren, auch dass man akzeptiert, dass ein anderer vielleicht nicht so adäquat reagieren kann.“ [I24: Z. 114–116]

Bewertung

Da der Projektverlauf durch die COVID-19-Pandemie verzögert wurde, befinden sich die Interviewten in der Vorbereitungs- oder in der Umsetzungsphase, sodass erfassbare Wirkungen bisher noch nicht beobachtet werden konnten oder schwer abschätzbar sind.
Wohl.Fühlen wurde in der persönlichen Teilnahme und aktiven Mitgestaltung als etwas Besonderes erlebt. Den Interviewten ist deutlich geworden, dass es sich um ein langfristiges Projekt handelt und die bisherigen Ergebnisse in diesem Kontext betrachtet werden sollten. Unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen wie einer erschwerten Durchführung in der COVID-19-Pandemie zeigt sich eine generelle Zufriedenheit und Sinnhaftigkeit mit dem, was erreicht werden konnte.
„Ich glaube, dass tatsächlich alle Sachen, wenn ich mir das jetzt so Revue passieren lasse, wie ich das sehe, gut angekommen sind.“ [I26: Z. 116–117]
Andererseits hätten die Interviewten gerne noch etwas mehr Ruhe und Zeit zur Umsetzung und Verstetigung der Maßnahmen gehabt. Durch pandemie-, krankheits- und personalbedingte Herausforderungen und der Projektarbeit zusätzlich zum Einrichtungsalltag wurde Wohl.Fühlen mitunter als anstrengend, belastend und frustrierend empfunden. Sich ändernde Rahmenbedingungen wie die Tariftreueregelung, Personal- und Organisationsaspekte erhöhen den Druck auf die Einrichtungen zusätzlich. Arbeitsintensive Projektphasen liefen parallel zur Weihnachtszeit und führten zu Verzögerungen. Insbesondere Bewohner*innen haben darüber den Anschluss verloren.
„Es ist halt einfach eine ganz besondere Zeit, wo wir durch diese intensiven Coronamaßnahmen und Dinge, die uns dann irgendwie beschäftigen, sehr viel Energie verlieren, dass man eigentlich solche Luxusdinge wie so ein Projekt nicht mit dieser Energie verfolgen kann, wie ich es gern tun würde.“ [I16: Z. 231–234]
Der Perspektivwechsel, welche Veränderungen andere Personen in der Einrichtung wahrnehmen, fällt schwer. Es zeigt sich die Annahme, dass Personen außerhalb der Steuerungsgruppen im bisherigen Projektzeitraum wenig bis keine Veränderung wahrgenommen haben. Es wird angenommen, dass das neue Bewusstsein noch nicht überall in der Basis angekommen ist.
„Nein, ich denke es hat sich nichts geändert. Es dauert halt alles seine Zeit. Es geht nicht von heute auf morgen.“ [I12: Z. 67–68]
Interesse, Motivation, Mut und Neugierde paarten sich zu Beginn der Projektarbeit mit zögerlicher Offenheit und Unsicherheit über das Gelingen. Trotz großer Heterogenität gelang es in weiten Teilen, individuell auf die Menschen einzugehen und sie zu erreichen. Positiv bewertet wird hier der intensive Austausch, die gegenseitige Inspiration, die verschiedenen Sichtweisen, die Identifikation von Fragestellungen, die Suche nach realistischen Lösungen und die Unterstützung bei Konfliktlösung in der Steuerungsgruppe. Das Projekt hat mit den partizipativen Methoden ein intensiveres Kennenlernen der Beteiligten ermöglicht, mit deren Offenheit und Öffnung man zuvor nicht gerechnet hatte. Bewohner*innen lernten im Projekt, sich mit Offenheit und Mut aktiv einzubringen, Bedürfnisse zu kommunizieren und einzufordern sowie sich auch kritisch zu äußern. Der partizipative Ansatz wurde aber auch als ungewohnt, schwierig und anstrengend wahrgenommen. Häufige Veränderungen in der Zusammensetzung der Steuerungsgruppen und der Projektbegleitung und damit entstehende Diskontinuitäten, Kommunikationsbrüche, Ungeduld und Unruhe wurden unterschätzt.
„Ich hatte teilweise das Gefühl, es wird zu viel geredet und zu wenig getan.“ [I20: Z. 190]
Projekte wie Wohl.Fühlen sollten regelmäßig wiederholt werden und die Bedürfnisse der kommenden Bewohnendengenerationen einbeziehen. Es wird geäußert, die Maßnahmen gerne weiter umsetzen, weitere entwickeln und das Projekt fortführen zu wollen. Unsicherheit besteht, ob dies nach offiziellem Projektende möglich ist und ob die Ressourcen und Motivation dafür aufgebracht werden können.
„Wir bleiben weiter dran. Wir werden das, was wir beantragt haben, auch umsetzen. Damit soll es bei uns aber nicht enden, weil wir aufgrund der jungen Bewohner einfach auch einen anderen Blickwinkel haben müssen.“ [I24: Z. 460–462]
Die Unterstützung und Förderung durch die Krankenkasse und die Zweckgebundenheit der Mittel wird positiv bewertet, aber auch Kritik am engen Rahmen des Leitfadens des GKV-Spitzenverbandes geübt. Vorgeschlagen wird eine stärkere Formalisierung des Prozesses der Arbeit in der Steuerungsgruppe, der Antragstellung und der Umsetzung.

Vernetzung

Die Vernetzung wird in weiten Teil als zwar nicht weitreichend, aber als ausreichend und gut beschrieben. Vor allem die externe Projektbegleitung wird als fachlich und menschlich sehr gut bewertet. Auch die Netzwerktreffen und der dabei entstehende Austausch und die Inspiration werden als hilfreich wahrgenommen.
„Das war wirklich mal gut, die Beiträge, die die da geleistet haben. Und der Austausch, der da stattgefunden hat, das war-. Da konnten wir uns auch auf jeden Fall einige Ideen herausziehen für uns. Genau.“ [I15: Z. 202–205]
Durch die COVID-19-Pandemie und die teils vorhandene räumliche Distanz der Einrichtungen untereinander, war der persönliche Austausch jedoch auch beschränkt.
„Nein, dazu war es halt zu wenig-, das sind ja wenige Netzwerktreffen, die stattgefunden haben, wie gesagt, dadurch, dass ich nur bei einem dabei war, unter harten Coronabedingungen sozusagen auch, bin ich dann da sicherlich nicht zum Plausch noch länger geblieben, also da hat jeder geguckt, dass er sozusagen schnell seiner Wege geht. Das war ja schon noch schwierig.“ [I16: Z. 203–207]
Auch der Kontakt zu externen Dienstleistern wie Märchenerzählerin, Aromatherapeutin oder Musiker wird zur Vernetzung gezählt. Teilweise besteht aber auch Unsicherheit darüber, welche Aktivitäten und damit verbundener Austausch überhaupt auf das Projekt zurück zu führen ist.
„Und wir hatten jetzt. Aber nein, das war Gewaltprävention, glaube ich. Da hatten wir auch noch so eine Weiterbildung und haben uns da auch noch mit einer Dame ausgetauscht, die auch in der Tagespflege arbeitet. Das war auch noch ziemlich wichtig, finde ich so. Aber ich bin jetzt gerade gar nicht sicher, ob das überhaupt da mit dazu gehört.“ [I15: Z. 205–208]
Angehörige nehmen lediglich die Treffen der Steuerungsgruppe wahr. Eine über die Netzwerktreffen und den Kontakt zur externen Projektbegleitung hinaus gehende Vernetzung wird auch von anderen Mitgliedern der Steuerungsgruppen kaum wahrgenommen. Vielfach wurde der Wunsch geäußert, nach dem Projektende weiterhin Treffen mit den anderen Einrichtungen zu veranstalten, um sich beispielsweise über die Nachhaltigkeit der Maßnahmen im Alltag auszutauschen.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass durch das Projekt Wohl.Fühlen ein stärkeres Bewusstsein und Sensibilität für die Themen Gewaltprävention und sexuelle Selbstbestimmung entstanden ist. Dazu haben eine generelle Offenheit und Bildungsmaßnahmen beigetragen. Es zeigt sich zudem, dass Veränderungen außerhalb der Steuerungsgruppen wenig wahrgenommen werden. Zum Zeitpunkt der Interviews wenige Wochen vor Projektende ist die Annahme, dass konkrete Veränderungen erst später sichtbar werden können. Für die Projektbeteiligten war das Projekt etwas Besonderes, was sinnhaft und zufriedenstellend erscheint, auch wenn der Projektverlauf heterogen in Bezug auf Kontinuität, externe Einflüsse und Belastungen durch die Projektarbeit selbst erschien. Eine Vernetzung hat stattgefunden und wird als hilfreich wahrgenommen, zeigt aber noch Ausbaupotentiale.
Wohl.Fühlen hat für die interviewten Personen zu mehr Offenheit und Mut geführt, eine Annäherung an sensible Themen gestützt und deren Relevanz hervorgehoben. Bewusstsein und Sensibilität werden stärker wahrgenommen und Fortbildungen als zielführend erachtet, was sich auch in anderen Publikationen als relevante Faktoren zeigt [14, 15, 17]. Die Barrieren in Strukturen und Rahmenbedingungen (teil)stationärer Altenpflege bestätigen sich auch in der Evaluation anderer Projekte im Kontext des Präventionsgesetzes [5, 16]. Insbesondere im Kontext der COVID-19-Pandemie hat das Thema Gewaltprävention nochmals an Bedeutung gewonnen [7].
Partizipation wird gemäß der Projektrahmung als ein zentraler Bestandteil der Konzeption, Umsetzung und Evaluation gesehen, zeigt aber auch Grenzen in den beteiligten Gruppen. Die Partizipation von Mitarbeitenden gestaltet sich einfacher als bei den Pflegebedürftigen und Angehörigen, welche weniger einbezogen werden. Bewährte Methoden der Partizipation gilt es für dieses Gruppen, insbesondere Bewohner*innen, deren kognitive oder physische Situation eine Projektarbeit erschwert, zu adaptieren [5, 16].
Eine Stärke dieser Evaluation liegt in der Erhebung von Sichtweisen zu Projekterfahrungen im Kontext der Prävention und Gesundheitsförderung. Ein tiefer Einblick in das Innere der Steuerungsgruppen kann als gelungen betrachtet werden, da Perspektiven von Bewohner*innen bzw. Tagesgästen, Mitarbeitenden und Angehörigen einbezogen wurden. Es ist dabei nicht auszuschließen, dass Aussagen der Interviewteilnehmenden durch sozial erwünschtes Antwortverhalten beeinflusst wurden. Auch wenn das Projekt zum Zeitpunkt der Erhebung noch nicht abgeschlossen war, konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Die erreichte Datensättigung stützt die Ergebnisse.

Fazit für die Praxis

  • Sexualität und die Vorbeugung von gewaltbehafteten Situationen sind bedeutende Themen in Pflegeeinrichtungen und sollten auch in allen anderen Pflegeeinrichtungen beachtet und bearbeitet werden.
  • Das Projekt hat Wege aufgezeigt, sensible Themen besprechbar zu machen. Es braucht einen geschützten Raum und eine offene Gesprächskultur.
  • Für Mitarbeitende haben interaktive Fortbildungen einen hohen und nachhaltigen Wert.
  • Durch partizipatives Vorgehen können einrichtungsspezifische und praktikable Ergebnisse erzielt werden. Die Perspektive von Bewohner*innen, Tagesgästen und Angehörigen ist unverzichtbar, auch wenn dadurch der Prozess mehr Ressourcen verlangt.
  • Es braucht mindestens eine treibende Kraft in der Einrichtung, die das Projekt und die Prozesse steuert – im Tandem besteht der Vorteil gegenseitiger Unterstützung und Vertretung. Der Rückhalt in der Führungsebene ist essentiell für den Projekterfolg.
  • Auch simple Maßnahmen und die Umsetzung des Gesundheitsförderungsprozesses an sich haben einen positiven Einfluss in den Einrichtungen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

N. Fleischmann und E.Z. Dietrich geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Unsere Produktempfehlungen

Prävention und Gesundheitsförderung

Print-Titel

  • Aktuelles Fachwissen aus allen Bereichen der Prävention
  • Fort- und Weiterbildungsforum mit festen Themengebieten
  • Wissenschaftliche Publikationen ergänzt durch aktuelle Kommentare

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

Literatur
3.
Zurück zum Zitat Diedrich J, Dietrich EZ, Fleischmann N, Wolff B (2023) Wohl.Fühlen – Gewaltprävention und sexuelle Selbstbestimmung in der [teil-]stationären Pflege. Impu! se 2023(119):21–22 Diedrich J, Dietrich EZ, Fleischmann N, Wolff B (2023) Wohl.Fühlen – Gewaltprävention und sexuelle Selbstbestimmung in der [teil-]stationären Pflege. Impu! se 2023(119):21–22
4.
Zurück zum Zitat Diedrich J, Fleischmann N, Wolff B (2024) Orte zum Wohl.Fühlen schaffen. Aktivieren 2024(1):28–31 Diedrich J, Fleischmann N, Wolff B (2024) Orte zum Wohl.Fühlen schaffen. Aktivieren 2024(1):28–31
5.
Zurück zum Zitat Fleischmann N (2021) Gesundheitsförderung in der stationären Altenpflege. In: Pundt J, Rosentreter M (Hrsg) Pflege dynamisch. vorwärtsgerichtet, Bd. 2021, S 183–204 Fleischmann N (2021) Gesundheitsförderung in der stationären Altenpflege. In: Pundt J, Rosentreter M (Hrsg) Pflege dynamisch. vorwärtsgerichtet, Bd. 2021, S 183–204
6.
Zurück zum Zitat Fleischmann N, Vanheiden T, Wendland S, Wolff B. (2019) Gesundheitsförderung in stationären Pflegeeinrichtungen. Präv Gesundheitsf 2019; 14[4]:343–8. Fleischmann N, Vanheiden T, Wendland S, Wolff B. (2019) Gesundheitsförderung in stationären Pflegeeinrichtungen. Präv Gesundheitsf 2019; 14[4]:343–8.
7.
Zurück zum Zitat Freytag S, Dammermann A, Schultes K, Bieber A, Fleischer S, Sander M et al. (2021) Gewalt und Gewaltprävention in der stationären Altenpflege während der COVID-19-Pandemie. Pflege 34(5):241–249CrossRefPubMed Freytag S, Dammermann A, Schultes K, Bieber A, Fleischer S, Sander M et al. (2021) Gewalt und Gewaltprävention in der stationären Altenpflege während der COVID-19-Pandemie. Pflege 34(5):241–249CrossRefPubMed
10.
Zurück zum Zitat Matzk S, Tsiasioti C, Behrendt S, Jürchott K, Argüello Guerra F, Schwinger A. (2023) Pflegebedürftigkeit in Deutschland. In: Schwinger A, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Jacobs K, editors. Pflege-Report 2023: Versorgungsqualität von Langzeitgepflegten. 1. Auflage. Berlin: Springer Open; 2023. p. 235–68. Matzk S, Tsiasioti C, Behrendt S, Jürchott K, Argüello Guerra F, Schwinger A. (2023) Pflegebedürftigkeit in Deutschland. In: Schwinger A, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Jacobs K, editors. Pflege-Report 2023: Versorgungsqualität von Langzeitgepflegten. 1. Auflage. Berlin: Springer Open; 2023. p. 235–68.
12.
Zurück zum Zitat Mayer H (2022) Pflegeforschung anwenden: Elemente und Basiswissen für. Studium und Weiterbildung. 6., überarbeitete Auflage. Wien: faculta) Mayer H (2022) Pflegeforschung anwenden: Elemente und Basiswissen für. Studium und Weiterbildung. 6., überarbeitete Auflage. Wien: faculta)
13.
Zurück zum Zitat Mayring P (2015) Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und. Techniken, Bd. 12. Beltz, überarb. Aufl. Weinheim Mayring P (2015) Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und. Techniken, Bd. 12. Beltz, überarb. Aufl. Weinheim
14.
Zurück zum Zitat Meyer G, Köpke S (2023) Gesundheitsförderung und Prävention in der stationären Langzeitpflege im Kontext des Präventionsgesetzes. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 66[5]:562–568CrossRefPubMed Meyer G, Köpke S (2023) Gesundheitsförderung und Prävention in der stationären Langzeitpflege im Kontext des Präventionsgesetzes. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 66[5]:562–568CrossRefPubMed
15.
Zurück zum Zitat Rüttgers I, Sander M (2023) Hinschauen, ansprechen und reflektieren. Altenheim 2023(8):52–54 Rüttgers I, Sander M (2023) Hinschauen, ansprechen und reflektieren. Altenheim 2023(8):52–54
17.
Zurück zum Zitat Wendland S (2013) Sexualität – [K]ein Thema in der Altenpflege? Pro familia. Magazin 2013(4):14–15 Wendland S (2013) Sexualität – [K]ein Thema in der Altenpflege? Pro familia. Magazin 2013(4):14–15
Metadaten
Titel
Das Projekt Wohl.Fühlen
Gewaltprävention und sexuelle Selbstbestimmung in (teil)stationären Pflegeeinrichtungen in Niedersachsen und Bremen
verfasst von
Prof. Dr. Nina Fleischmann
Emily Zoe Dietrich
Publikationsdatum
13.05.2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Schlagwort
Altenpflege
Erschienen in
Prävention und Gesundheitsförderung
Print ISSN: 1861-6755
Elektronische ISSN: 1861-6763
DOI
https://doi.org/10.1007/s11553-024-01130-2

Leitlinien kompakt für die Allgemeinmedizin

Mit medbee Pocketcards sicher entscheiden.

Seit 2022 gehört die medbee GmbH zum Springer Medizin Verlag

Facharzt-Training Allgemeinmedizin

Die ideale Vorbereitung zur anstehenden Prüfung mit den ersten 49 von 100 klinischen Fallbeispielen verschiedener Themenfelder

Mehr erfahren

Wie der Klimawandel gefährliche Pilzinfektionen begünstigt

24.05.2024 Candida-Mykosen Nachrichten

Dass sich invasive Pilzinfektionen in letzter Zeit weltweit häufen, liegt wahrscheinlich auch am Klimawandel. Ausbrüche mit dem Hefepilz Candida auris stellen eine zunehmende Gefahr für Immungeschwächte dar – auch in Deutschland.

So wirken verschiedene Alkoholika auf den Blutdruck

23.05.2024 Störungen durch Alkohol Nachrichten

Je mehr Alkohol Menschen pro Woche trinken, desto mehr steigt ihr Blutdruck, legen Daten aus Dänemark nahe. Ob es dabei auch auf die Art des Alkohols ankommt, wurde ebenfalls untersucht.

Das sind die führenden Symptome junger Darmkrebspatienten

Darmkrebserkrankungen in jüngeren Jahren sind ein zunehmendes Problem, das häufig längere Zeit übersehen wird, gerade weil die Patienten noch nicht alt sind. Welche Anzeichen Ärzte stutzig machen sollten, hat eine Metaanalyse herausgearbeitet.

Chronische Verstopfung: „Versuchen Sie es mit grünen Kiwis!“

22.05.2024 Obstipation Nachrichten

Bei chronischer Verstopfung wirken Kiwis offenbar besser als Flohsamenschalen. Das zeigen die Daten aus einer randomisierten Studie, die der Gastroenterologe Oliver Pech beim Praxis-Update vorstellte.

Update Allgemeinmedizin

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.